9. Dezember 2010

P. O. BOX (8)

Esch-au-Lac. Soeben ist die Jubiläumsausgabe der kleinen, aber feinen spanischsprachigen Literaturzeitschrift „abril“ erschienen, die seit 1991 zweimal jährlich von einer Gruppe engagierter EU-Übersetzer in Luxemburg herausgegeben wird. Gratulation! Solcher Ausdauer, solchem Engagement, solchem Wissen und Können muss gerade hierzulande aus Leibeskräften applaudiert werden. ¡Enhorabuena, amigos! Nur: Warum sieht die kürzlich aus der Druckerpresse gekommene Nummer 40 von „abril“ wie ein Sarg aus? Das Cover schwarz wie die düsterste Winternacht. Darauf kein einziger Buchstabe. Kein Titel, keine Zahl, weder auf dem vorderen Cover noch auf dem Rücken und auch nicht auf der 4. Umschlagseite. Alles nur schwarz! Kohlrabenschwarz, zappenduster, finster, ohne den leisesten Lichtblick, kein Farbton, der das Auge erfreut, kein Buchstabe, der Erhellung bringt. Sondern ein schmales Bändchen, in Trauer gewickelt, ein Büchlein wie eine Todesanzeige.
Ob dieses gruftige Design wohl einen tieferen Sinn hat? Ob der Käufer und hoffentlich auch spätere Leser bereits vom Äußeren her auf den Inhalt der 40. „abril“-Ausgabe schließen soll, der diesmal ausschließlich von 18, teils ganz-, teils teilluxemburgischen Autorinnen und Autoren bestritten wird, von Poetinnen und Romanciers, Erzählern und einer Vorwortverfasserin, das Ganze, passenderweise, illustriert mit Werken von Andrés Lejona, dem zweifellos spanischsten aller luxemburgischen Fotografen? Nein, man soll, man darf dem rührigen José Holguera und seinen nicht weniger fleißigen Redaktionskollegen keine böswilligen Absichten unterstellen – auch wenn sie ihrem Korrektor diesmal manch peinlichen Flüchtigkeitsfehler durchgehen ließen. So pessimistisch, so trüb, trost- und hoffnungslos, wie besagter Umschlag vermuten lässt, sind die ausgewählten und ins Kastilische übersetzten Texte gar nicht. Aber vielleicht ist dieses kleine „Schwarzbuch“ der luxemburgischen Gegenwartsliteratur in einer ganz anderen, von den Machern eher ungewollten Hinsicht symptomatisch für die gegenwärtige Literaturszene und die zum Teil unsäglichen Diskussionen, die auf der heimischen Bücher- und Schreiberbühne derzeit geführt werden. Mit literarischen Inhalten, Themen, Stoffen, Stilen und Formen haben diese (Pseudo-)Debatten nichts zu tun, leider. Stattdessen geht es bei den Streitereien der letzten Monate vorwiegend um außerliterarische Formalitäten und persönliche Animositäten, um Grabenkämpfe und Gockelgehabe, um Streitlust, Zerstörungswut und Imponiersucht, um Einmischungsversuche diverser Herrschaften, die von dem, was tatsächlich auf dem Spiel steht, nicht die geringste Ahnung haben. Oder wie ist zu verstehen, dass die Chefin jenes Ministeriums, dem die Herausgeber der neuesten „abril“-Nummer für seine „colaboración“, also die Zusammenarbeit – heißt vermutlich: für die finanzielle Unterstützung – danken, kürzlich verlauten ließ, ihre Verwaltung würde in Zukunft als Verleger auftreten und die Gewinnertexte des jährlichen nationalen Literaturwettbewerbs in Buchform veröffentlichen. Mit Verlaub: Ist die Dame nun endgültig von allen guten Kulturgeistern im Stich gelassen worden? Wie soll das denn gehen? Ein Ministerium als Büchermacher? Und wer, bitte, kümmert sich um Lektorat, Vertrieb, Marketing? Welcher ernstzunehmende Autor möchte denn seine Werke unter dem Signet einer staatlichen Behörde veröffentlicht sehen? Erinnert sich noch jemand an die DDR? Wie war das in Rumänien unter Ceausescu? Schon mal was von den Staatsverlagen Chinas und Nordkoreas gehört?
Apropos nationaler Literaturwettbewerb. Im selben Zusammenhang wurde neulich eine weitere, in der Montée de la Pétrusse ausgebrütete Schnapsidee publik. Künftig soll besagter Wettbewerb nämlich in zwei Alterskategorien unterteilt werden, um, wie von zuständiger, aber leider meistens von Sachkenntnis unbeleckter Stelle behauptet wird, Nachwuchsautoren zwischen 15 und 25 Jahren bessere Gewinnchancen zu bieten. ¡Díos mío! Sind wir hier auf der Pferderennbahn? Oder im Boxring? Wie stellen die ministeriellen Veranstalter sich das denn vor? Wie sollen die Juroren, sofern sie denn überhaupt und auch prinzipiell dazu imstande sind, die Erstergüsse pubertierender Jugendlicher mit einem eventuell bereits reifen Werk eines Jungautors vergleichen, der gegebenenfalls schon ein abgeschlossenes Universitätsstudium hinter sich hat?
Thomas Mann war übrigens erst 23, als er die „Buddenbrooks“ verfasste, während Paulo Coelho auch im gestandenen Mannesalter von 63 nur gequirlten Buchstabenkitsch zustande bringt. Wer lieber auf die Hervorbringungen des Brasilianers verzichten möchte, kann in der neuen „abril“ u. a. einen Auszug aus dem bislang unveröffentlichten Roman „Taumel“ von Nico Helminger lesen. Vorausgesetzt, er versteht Spanisch oder hat jemanden zur Hand, der ihm die entsprechende Rückübersetzung ins Deutsche liefern kann. In besagter Montée de la Pétrusse sollte man nach so jemandem aber besser nicht suchen.
© Georges Hausemer

9. November 2010

OP DER RULL (13): FRÄULEINWUNDERSEX

Zur Ruhe gekommen, aber nur kurz, bloß vorübergehend sozusagen. Und auch nicht vollständig, da der Lärmpegel rundum sich alles andere als gesenkt hat, in letzter Zeit. Ganz und gar im Gegenteil. Es wird gehämmert und gebohrt, geschrien und gebrüllt, getrommelt und posaunt, dass die immerwährende Geräuschkulisse einem auch noch die letzten Lachfältchen aus dem Gesicht bügelt. Von den unschönen Riesenfalten, die so ein Capybara-Fell kurz vor Beginn des Winterschlafs wirft, ganz zu schweigen. Kein überwältigender Anblick, fürwahr. Höchste Zeit, sich mal wieder etwas Vernünftiges auf die Rippen zu futtern.
Dennoch. Seit Tagen hockt das Wasserschwein, mittlerweile nicht nur an den Schläfen völlig ergraut, sondern auch alles andere als herbstlich depressiv und noch gar nicht wintermüde, auf seinem Feigenbaum und wirft mit überreifen, schon etwas muffig riechenden Früchten um sich. Rücksicht kann bei solch munteren Aktionen natürlich nicht genommen werden. Demnach darf es nicht verwundern, wenn versehentlich einmal der oder die Falsche getroffen wird, Kollateralschaden, oder wie nennt man das?
Ach ja, „Fräuleinwunder“ – noch so ein Begriff, der jüngst auch hierzulande Einzug hielt, ohne jemals laut oder auch nur leise hörbar ausgesprochen worden zu sein. Hierzulande, inoffiziell auch Europas einzige offizielle Bananenrepublik genannt. Oder meinetwegen Brachland, wenn Sie, verehrter CG-Leser, so wollen. Intellektuelle Einöde, geistig verbrannte Erde, Bauernschlauland, Neidrepublik, Nepotistan, Konfusistan, seit Jahrzehnten auf den Erlöser, die Erlöserin wartend, die nun endlich eingeschwebt ist, von hochherrschaftlicher Wolke sich herab bemühend, mutig zwar, aber vor allem übermütig, vermutlich ignorierend, wie brutal am Ende des Höhenflugs die Landung sein wird, ein extrem schmerzhafter Aufprall mit als Folge mehr als nur zersplitterten Brillengläsern und heftigem Nasenbluten. Also aufgepasst, Fräulein, Sie werden sich noch wundern.
Aber was für böse Worte erzählt man sich in letzter Zeit über den weichstacheligen Vierbeiner! Jetzt haben sie dem Viech doch tatsächlich die halbe Lunge raus operiert, und trotzdem ist es ständig in der halben Welt unterwegs. Hätten sie ihm die Lunge allerdings vollständig entfernt, dann könnte es in aller Ruhe die ganze Welt bereisen und endlich glücklich und zufrieden sein. So Sachen halt.
Aber, Leute, mal ehrlich! Auch das Wasserschwein will nur seinen Spaß. So wie Umo, das seltsame Wesen, von dem Chiguire, der Venezolaner, kürzlich las und Capy, seinem Cousin, aufgeregt berichtete. (Capy klingt echt doof, aber innerhalb der Familie braucht man noch weniger Rücksicht zu nehmen, denkt sich der Südamerikaner wohl.) Umo: ein irgendwie lebendiges Ding? Ein Insekt? Ungeziefer? Bakterie, Laus oder Floh? Nun, auch Umo nimmt weder sich noch andere ernst, sondern das Leben auf dem heiteren Fuß, zumindest behauptet es das von sich selbst oder lässt seine Devise von jenen Stimmen verbreiten, die ihm bückligst ergeben sind, von seinen Sprachrohren, die man sich um Himmels willen niemals zu klein, zu fein oder gar ungefärbt und faltenfrei vorstellen sollte.
Wetten – und damit kommt wenigstens ein Hauch von Kohärenz in unsere Geschichte von heute, wetten wir also, dass das Fräulein am Ende bei Umo landen und kurz darauf Rotz und Blut heulen wird! Nur sage es, das Fräulein, dann nicht, niemand hätte es, selbiges Fräulein, nicht gewarnt. Dabei will Umo doch nur spielen, sich amüsieren, sich auf seine alten Tage noch dieses und jenes Späßchen gönnen. Wahre Begeisterung kommt nämlich nicht auf, wenn man immer nur dreieinhalbtausend Jahre alte Liebesgedichte zugenuschelt bekommt, und sei es in noch so beeindruckendem Altägyptisch. Gelegentlich sollte man sich auch mal eine köstlich duftende Feige im genau richtigen Reifezustand auf der Zunge zergehen lassen. Statt sich ständig mit Büchern aufm Kopf, im himmelblauen Streifenpyjama und dem dickfeisten Zeh voran durch morsches, faulig stinkendes Unterholz zu wühlen.
Na ja, Capybara und die Frauen: ein Kapitel für sich. Wahrscheinlich geht es am Ende wie immer nur um Sex. (Auch wenn, ehrlich gesagt, das Wörtchen „Sex“ hier nur steht, damit die ganze Welt vom luxemburgischen Fräuleinwunder erfährt, sobald mit irgendeiner Suchmaschine nach besagtem Threeletterdingsbums gefahndet wird.) Wie auch immer: Yvonne, Julia, Irina, Lisbeth, die Holiczek, Frau Breitling, die fette Blondine, die krasse Debütantin – das Schwein hat sie alle gehabt. Und sie ihn natürlich auch.

30. September 2010

OP DER RULL (12): IM WENDEKREIS DER GOLDENEN MUSCHEL

Auto. Innen. Nacht. Zwei Scheibenwischer; wischen von links nach rechts, von rechts nach links, hin und zurück. Leise quietschend. Davor zwei Lichtkegel. Scheinwerfer; besser: Lichtkegelwerfer. Es schneit, wie in Zeitlupe. Musik, ebenfalls wie in Zeitlupe. Tanzende Kügelchen, wie aus Watte. Flaches Land. Straßenränder, ein Bahnübergang, zwei offene Bahnschranken. Hecken seitlich, Gebüsch, Gestrüpp. In der Mitte Reifenspuren, im Schnee. Schmutziger Schnee, dürre Hecken, krumme Bäume, Wintergeäst. Jemand atmet. Der Fahrer. Man sieht ihn nicht. Man schaut mit seinen Augen. Sieht, was er sieht. Schneeflocken in der erleuchteten Dunkelheit. Plötzlich, in einer kleinen Nothaltebucht neben der Straße, ein parkender Wagen. Standlichter ein-, Motor ausgeschaltet. Das geschlossene Seitenfenster auf der Fahrerseite. Dahinter eine junge Frau, telefonierend. Demnächst tot.
Cut.
Ein Baum in gleißendem Sonnenlicht, grotesk verkrüppelt. Wie ein uralter Mann mit hochgestreckten Armen, die sich nicht mehr bewegen lassen. Braune, rissige Erde; Sand, zu Beton verhärtet. Krusten, Wind, grell strahlender Himmel, wolkenlos. Im Schatten unter dem Baum ein junger Mann, auf einen Ellbogen gestützt, umzingelt von Schafen, darunter auch ein paar Ziegen. Nirgends ein Hund. Junger Mann mit Schirmmütze. Bald schwingt er sich auf sein Rad, fährt aus dem Nachmittag hinaus in den nur unwesentlich weniger heißen Abend. Zufällig findet er, als der Hinterreifen seines Fahrrads kaputt geht, im knochentrockenen Sand einen Schlüsselanhänger aus Metall, geformt wie zwei Berggipfel über einer Winterlandschaft, natürlich mit Schnee. Bald wird es Nacht; dann kommen die Träume. Von zwei Berggipfeln über einer Winterlandschaft zum Beispiel, natürlich mit Schnee. Mitten im Traumbild ein Mann mit Schirmmütze, der auf allen Vieren vorankriecht, sich von Zeit zu Zeit eine Handvoll Schnee wie süßen Kuchen in den Mund stopft, schließlich mit den bloßen Händen zu graben beginnt und schon wenige Zentimeter unter der Schneedecke auf eine Kiste stößt, die er sofort öffnet, um darin eine weitere Kiste zu finden und in dieser Kiste einen Schlüssel. Oder ist es ein angeknabbertes Menschenohr?
Cut.
Innen. Tag. Eine Wand, davor ein Tisch, links vom Tisch ein Hocker (ziemlich niedrig), rechts vom Tisch ein Stuhl (normale Höhe). So beginnt der Tag des Geldverleihers. Er schläft noch. Seine Kunden aber warten bereits. Der versoffene Alte, die verzweifelte Mutter, die Dame im blauen Kleid, von der man nicht weiß, ob sie seine Ehe- oder seine Putzfrau ist. Oder nichts von beidem. Sobald der Geldverleiher seinem Gegenüber die Scheine über den Tisch geschoben hat, erhebt er sich, geht drei Schritte zur Tür, öffnet sie, fordert den andern auf, nun unverzüglich zu verschwinden. Dann ein Geräusch aus dem Nebenzimmer. Ein Schluchzen vielleicht, oder das Scharren müder Füße. Eilig zieht der Geldverleiher eine Schublade auf, kramt eine Pistole hervor, horcht, beugt sich nach vorne, betritt das Nebenzimmer, sieht dort auf einem Tisch einen Einkaufskorb stehen, der – seltsamerweise – leicht wackelt. Im nächsten Moment beginnt das Baby fürchterlich zu schreien. Der Geldverleiher legt es an seine Schulter und streicht ihm sanft über den Rücken.
Cut.
Zwei Paare, ein älteres und ein jüngeres. Abend in einer südlichen Altstadt. Bierdosen, Plastikbecher, Zigarettenkippen, Papiertaschentücher, Kartonfetzen, Glasscherben, Sperrmüll. Labyrinthisches Schachbrettmuster. Nach unzähligen Ecken, Kurven und Geraden kehren die Vier schließlich ein. Restaurante La Cepa. Einige freie Tische; erst wenige Kunden sind eingetroffen, lehnen am Tresen, schauen nach draußen, warten ungeduldig, dass der Andrang zunimmt. Die Vier nehmen Platz. Zwei Frauen, zwei Männer. Ein Fernsehapparat hoch unter der Decke. Beide Männer schauen hin. Während die Frauen sich gleich wieder erheben, ihre Handtaschen über die Stuhlpfosten hängen und sich den mit Speisehäppchen gefüllten Tellern und Tabletts auf der Theke widmen. Kurze Stille. Dann ein Aufschrei. Eine der Frauen vermisst ihre Tasche. Sie hatte sie doch eng zwischen zwei Stühle geklemmt, zwischen ihren und den ihres Partners. Nun ist sie trotzdem weg. Fort. In Luft aufgelöst. In Töne aus dem Fernseher, den Lautsprechern. Dampf durch die Abzugshaube, Rauch zwischen den Fassaden. Fast gleichzeitig springen mehrere Gäste auf, blicken zu Boden, starren einander an, fixieren den Stuhl, an dem nun nichts mehr hängt. Eine Erinnerung höchstens.
Cut.
Hallende Schritte. Befehle wie Gewehrsalven. Eine junge Frau, noch ein Mädchen fast, stolziert voran, in ihrem Gefolge uniformierte Jugendliche, nach Geschlechtern getrennt, in zwei perfekten Reihen, im Gleichschritt fast, mit durchgebogenem Rücken. Die Frau heißt Marieta. Eigentlich María Teresa, aber diesen Namen hasst sie. Ein Klassenzimmer, hölzerne Bänke, eine Schiefertafel, davor eine von weißem Staub überzogene Rinne, darin mehrere Kreidestücke, nur noch Stummel, reif für den Abfalleimer, der schon bereitsteht. Marieta ruft die Namen der Schüler auf. Bei einem zögert sie, schaut auf, runzelt die Stirn, aber alles nur kurz. Als die Pausenklingel ertönt, springen die Schüler auf und rennen auf den Flur hinaus, nur einer nicht. Nur einer erhebt sich ganz langsam, den Blick auf Marieta gerichtet, die Aufpasserin, die eines Tages sicherlich Lehrerin werden will. Dann geht auch er wortlos hinaus, Marieta öffnet leicht die Lippen, nur einen Millimeter weit, mehr nicht, sagt nichts, bleibt stumm, formt den Namen des Jungen höchstens in Gedanken.
Cut.
Am Meer. Sandburgen und Erdlöcher. Darin Kinder, freche Jungs und schreckhafte Mädchen. Ein Mann, der Vater sein könnte. Eine Mutter, die eigentlich vor kurzem verstorben sein müsste. Bei einem Autounfall, wie ihre Tochter behauptet, ihre vermeintliche Tochter. Anrufe mitten in der Nacht, unerwartete Besucher, Ausflüge im Dunkeln. Seeschlangen. Eulen. Würmer, die vorne wässrige Erde in sich hinein schlürfen und hinten wässrige Erde ausscheiden. Eine einzige fließende Bewegung.
Cut.
Weihnacht in Skogli. Noch ein Labyrinth. Schicksalsfäden. Ein toter Fahrgast im Zug. Dessen gelähmte Mutter, die von zwei starken Männern eine schmale Treppe hinunter getragen wird. Neben dem altmodischen Wandtelefon im Flur das Foto eines jugendlichen Fußballspielers. Ein mit sternhimmelblauem Laken bezogenes Bett und neben dem Bett, auf dem Fußteppich, ein nacktes Paar beim Sex. Ein verkleideter Nikolaus. Mit Rüschenbart, Geschenksack und Aluminiumschaufel. Tränen unter der Gesichtsmaske.

Filmbilder, aus dem Zusammenhang gerissen; aus dem Gedächtnis eines Wasserschweins, also höchst unvollständig; Minuten nur, Minuten des Zufalls; Capybara-Memoiren; Sekundentexte; Gleichmut und Verwunderung; den kleinsten Teil fürs Ganze nehmen und das Ganze in den Schornstein schießen. Wo war das und wann? Im Wendekreis welchen Tiers, im Sternzeichen welcher Himmelsmacht? Nun ist der Sommer vorbei, auch bereits der September. Keine schöne Zukunft für Borstentiere. Und von Motsi nach wie vor nicht das geringste Lebenszeichen.

***

P. O. BOX (7)
Donostia/Esch-au-Lac. Belén Esteban! Der Name besagt Ihnen vermutlich nichts. Und der andere, inoffizielle Name – oder soll man Titel sagen – der nur ganz zufällig in diese ansonsten eher feine Rubrik gerutschten Dame? Princesa del pueblo. Dabei sieht sie weder aus wie eine Prinzessin, noch benimmt sie sich so. Eher wie die vulgärste aller derzeit lebenden Spanierinnen. Und aller aktuellen Südamerikanerinnen noch dazu. Aber so eine mag das Volk, das spanische zumindest. Eine Krawallschachtel par excellence! Eine Revolverschnauze übelster Bauart! Ein Trash-TV-Phänomen, das man eigentlich mit Missachtung strafen müsste. Wären da nicht die jüngsten Umfragen, die unlängst auf der iberischen Halbinsel durchgeführt wurden und bei denen herauskam, dass Belén Esteban, übrigens die Ex des auch nicht gerade wegen seiner Intelligenz berüchtigten Toreros Jesulín de Ubrique, dass also „die Prinzessin des spanischen Volkes“, träte sie demnächst bei Parlamentswahlen an, annähernd acht Prozent aller Stimmen auf sich versammeln und damit zur drittstärksten politischen Kraft in ihrem Land werden würde. Olé! Oder eher: Horror! Schauder! Entsetzen! Wer das nicht glaubt, soll den Namen des Schreckensweibs doch mal bei einer der gängigen Suchmaschinen im Internet eingeben: Belén Esteban. Man wird, so steht zu befürchten, noch viel von ihr hören, irgendwann auch nördlich der Pyrenäen.

© Georges Hausemer

© Georges Hausemer

5. Juli 2010

OP DER RULL (11): WO IST MOTSI MABUSE?

Schrecklich! In wenigen Tagen wird die WM vorbei sein. Bange Fragen: Wird das Leben nach dem Finale jemals wieder einen Sinn haben? Werden wir im Alltag einen finden? Und wenn ja, welchen? Zumal wir dann, nach dem kommenden 11. Juli, nicht nur ohne Kathrin Müller-Hohenstein und ohne Oliver Kahn auskommen und weitermachen müssen, sondern auch ohne Jo-Ann Strauss. Und – was am allerschwersten zu ertragen sein wird – ohne Motsi Mabuse.
Motsi, wo bist du? An den ersten Tagen der WM, irgendwann vor langer Zeit im vergangenen Juni, durften wir dich als Mitglied des ARD-Teams in Südafrika kennen lernen (oder war’s beim ZDF? Alles schon so lange her …), deinen fachlich völlig unbeleckten Kommentaren über die ach so verschiedenen Mannschaften und ihre Spieler lauschen, deine teils kuriosen, teils abstrusen Vergleiche über Trikots und Landesfarben goutieren und … Aber plötzlich: Keine Motsi mehr da, weder vor der Kamera noch auf dem Bildschirm! Wie von den Vuvuzelas vom Erdboden weggetrötet kamst du uns vor, spurlos verschwunden, du und auch deine süßen deutschen Sätze mit dem kecken südafrikanischen Akzent. Sätze, die uns verblüfften, erstaunten, manchmal fast in Trance versetzten, weil sie so herrlich anzuhören, aber keinen Deut zu verstehen waren.
Genau das, Motsi, war das Herrliche an dir und deinen Einwürfen: Du hattest (hast) von Fußball keine Ahnung, aber zu allem rund um die WM eine Meinung. Aber dann, wie gesagt: alle Bildschirme motsilos, keine Motsi mehr weit und breit. Und, noch schlimmer: kein einziges, nicht das leiseste Wort der Erklärung.
Dabei hätten wir dich noch so viel zu fragen, Motsi. Wo du deinen Nachnamen her hast, zum Beispiel? Mabuse! Klingt nicht gerade nach Afrikaans. Weißt du eigentlich, dass man hierzulande, also hier in einem der winzigsten Staaten Europas, mit diesem Familiennamen alles andere als Südafrika, Fußball oder gar eine Fußballweltmeisterschaft verbindet? Sondern eher einen gewissen Doktor gleichen Namens, den Schriftsteller, der diese Figur erfand, den Regisseur, der dessen Geschichte verfilmte. Aber Norbert Jacques und Fritz Lang – diese Namen besagen dir, Motsi Mabuse, vermutlich rein und glatt gar nichts, nicht wahr? Natürlich … Obwohl … Nun, dein Deutsch ist zwar nicht immer ganz fehlerfrei (gewesen), aber um einen nicht allzu dicken Roman zumindest anzulesen, dafür sollte es doch reichen, oder?
Soll ich dir den „Dr. Mabuse“ dann mal runterschicken? Nach Johannesburg, Kapstadt, Port Elizabeth? Oder wo bist du zuhause?
Bitte, Motsi, melde dich! Und nicht erst nach dem Ende der WM, wenn längst wieder … Stop! Halt! Was entdecke ich denn da! Im Internet, beim Googeln. Motsi Mabuse ist in Wirklichkeit eine berühmte Tänzerin und lebt irgendwo im Ruhrgebiet, ist mit irgend so einem Schönling, von Beruf ebenfalls Tänzer, verheiratet und hat sich so gefreut, als die ARD-Anfrage kam, weil sie auf diese Weise endlich ihre Familie und Freunde in Südafrika wiedersehen konnte.
Ach, Motsi, pack doch ein! Weltmeister werdet ihr jedenfalls nicht.
© Georges Hausemer

© Georges Hausemer

16. Juni 2010

OP DER RULL (10): UWESEELA

Können Wasserschweine Fallrückzieher? Wenn sie lange genug trainieren, bestimmt. Aber wozu soll das gut sein? Viel lieber sitzt Mijnheer C. dieser Tage auf der häuslichen Couch und lässt sich die Ohren volldröhnen. Erstaunlich, wie häufig diese Tröten schon „vernannt“ wurden: Vezuvela, Vuzuvale, Vuzuleva, Zuluvesa ... Am besten aber gefällt unserem Mitgucker die eingedeutschte Afrikaans-Version „Uweseela“. Die kann er sich inzwischen problemlos merken, nachdem er sie in den ersten zwei, drei Tagen stets mit „Venezuela“ verwechselte. Kein Wunder, denn das ist das Land, aus dem Mijnheer C. eigentlich herkommt. Leider ist Venezuela diesmal bei der Fußball-WM nicht vertreten – aber war das überhaupt schon einmal der Fall? Na gut, dafür sind etliche andere Nationen dabei, in denen das Stacheltier auf Verwandtschaft, wenn auch nur auf entfernte, verweisen kann: Uruguay, Paraguay, Chile, Argentinien, Brasilien ... Sonst noch wer? Spanien! Nein, in Spanien lebt das Wasserschwein höchstens im Zoo. Dafür wird Spanien Weltmeister werden, wer sonst. Darauf geht Mijnheer C. jede Wette ein, im Sitzen, im Stehen wie im Liegen. Und wenn es sein muss, jongliert er sogar eine aus Zeitungspapier nachgemachte „Uweseela“ auf der Schwanzspitze, mindestens drei Sekunden hintereinander und ohne die geringste Bodenberührung.
© Georges Hausemer

11. Juni 2010

OP DER RULL (9): SEEIGELEIER UND GRÜNE KANINCHEN

Minus 19 Grad Celsius im Juni? Das haben Wasserschweine davon, wenn sie sich um diese Jahreszeit auf der südlichen Halbkugel tummeln. Dazu noch auf knapp 5.000 Metern Höhe und um sechs Uhr morgens, lange bevor „Tata Inti“, der Sonnengott, seine Nase über den höchsten Andengipfel zu strecken beginnt. Da hilft auch das dickste und dichteste Stachelfell nichts. Lama müsste man sein! In einen herrlich warmen Wollumhang gewickelt, von den Ohren bis über die Knöchel. Oder wenigstens ein „vicuña“, Lamas nur unwesentlich dünner gepolsterter, aber dafür viel feinhaarigerer Cousin, der sich ebenfalls im chilenischen Hochgebirge herumtreibt und die Löffel spitzt, sobald sich irgendwo ein Capybara zeigt, der eigentlich gar nicht hierher gehört. Genau aus diesem Grund, also wegen der Fehl-am-Platzigkeit, hatte Guillermo, der Führer der Ausländertruppe, neben der Thermoskanne mit heißem Wasser für Kaffee und Tee zusätzlich eine handliche Sauerstoffflasche dabei, für alle Fälle, falls einem seiner Gäste der Atem knapp werden oder die Luft gänzlich wegbleiben würde. Keine Seltenheit auf gut 4.900 m ü. M., zumal bei Lungenkranken, auch wenn die Notboddel dem Hobbyandinisten eher wie ein Sahnespender zum Garnieren des Instantgetränks vorkam, wie eine Spraydose, deren süßen Inhalt man gewöhnlich zum Verzieren von Hochzeitstorten verwendet.
Señor C. kommt soeben also aus Südamerika zurück, nach wie vor leise hechelnd und gleichzeitig mit leicht angesengtem Nasenspitzchen. Ach, wie bequem lag es sich dort am weich-warmen Busen von Pachamama! Wie majestätisch schoben sich die „abus“ genannten Vulkane vor den wolkenlosen Horizont! Wie wütend schnaubten die Geysire von „Tata Tatio“, dem rauchenden Vater!
Später, weiter südlich, folgten die weniger angenehmen Begleiterscheinungen des chilenischen Winters: Regen, Hagel und Sturm; Wellen, Donner und Blitz. Und nicht zu vergessen (denn Señor C. lässt sich immer wieder gerne auch auf kulinarische Wagnisse ein, mit ab und zu ziemlich unerfreulichen Folgen): die sogenannten Seeigelzungen, die in Wirklichkeit Seeigeleier und fest zusammengepappt waren, furchtbar salzig und leider auch schon ein wenig ranzig schmeckten. Also ließ C. die Pfoten rasch davon weg, um sich leckereren Dingen zuzuwenden: der kräftigen Seeaalsuppe beispielsweise (angeblich das Lieblingsgericht von Pablo Neruda, einem der berühmtesten Chilenen überhaupt), den panierten Austern, denn extrem bissfesten Meeresschnecken, dem „curanto“ genannten, deftigen Muschel- und Fleischeintopf, dem unumgänglichen, wiewohl selten gewordenen Lachs in allen möglichen Darreichungsformen.
Darauf einen Pisco Sour! Einen doppelten sogar. Und noch besser: Dazu ein paar saftige Kokablätter in die rechte Mundtasche schieben, loskauen, durchhalten.
PS: Was Señor C. zu fragen vergaß: Ob die „vizcachas“, die kleinen Kaninchen mit dem grünlich schimmernden Fell, die unermüdlich durch das Gestrüpp und Geröll der Atacama-Wüste hoppeln, eher gekocht, gebraten oder gegrillt verspeist werden? Der Stachelige muss also noch einmal hin. Doch dann nimmt er seine ganz persönliche Betreuerin mit, versprochen.
© Georges Hausemer

© Georges Hausemer

26. Mai 2010

OP DER RULL (8): DAS WUNDER VON VINUESA

Als es geschah, das Wunder von Vinuesa, herrschte über der „Laguna Negra“ die perfekte Wolkenlosigkeit. Der Himmel war blau wie ein frisch gewaschenes Tischtuch; die Wälder und Felsen ringsum das dunkle Gewässer funkelten noch, als die Sonne längst nicht mehr zu sehen war und Capybara schon mit hochgeschlagenem Kragen über den Holzsteg spazierte. Vor seinen staunenden Augen: prächtige Findlinge, von einem urzeitlichen Vulkan einst an die Hänge der Sierra de Urbión gespuckt und nun mit der Spitze aus dem düsteren Wasser der Lagune ragend, die, der Legende nach, bodenlos tief ist und über deren Grund drei Leichen schweben: die von Alvargonzález und die seiner Mörder, die gleichzeitig seine Söhne waren und ihren Vater aus Habsucht getötet haben, um frühzeitig an ihr Erbe zu gelangen, und dessen leblosen Körper sie ins Wasser warfen, in der Folge aber dennoch nicht glücklich wurden, weil die Natur sie für ihre frevelhafte Tat bestrafte, sie, die einfachen Bauern, an jahrelangen Missernten leiden ließ, woraufhin die beiden Brüder beschlossen, ihr Land zu verlassen, sich auf ihrer Flucht jedoch in den endlosen Wäldern der kastilischen Provinz Soria verirrten und schließlich genauso in den Fluten der „Laguna Negra“ landeten wie der Leib ihres unglücklichen Erzeugers.
Gerne hätte Capybara, trotz der Schaurigkeit dieser Geschichte und obwohl sich die Sonne bereits hinter dem imposanten Hochgebirge verabschiedet hatte, kurz eine Vorderpfote in das schummrige Nass gestreckt und sich ein wenig die Schnauze erfrischt, doch die Zeit drängte. Es ging auf halb acht zu, die Mägen knurrten, bald würde, eintausendfünfhundert Kilometer entfernt, das Spiel angepfiffen werden. Welches Spiel?, mag mancher fragen. Und von welchem Mysterium geht hier eigentlich so großspurig die Rede? Und was bedeutet Vinuesa?
Na gut, wir sind erneut bei Capybaras altbekannter Schwäche für den Fußball gelandet. Bei Jeunesse E., seinem Lieblingsverein, der neulich unerwarteter-, ja tatsächlich wundersamerweise den großen, nicht für möglich gehaltenen Coup gelandet und sich die diesjährige Meisterkrone aufgesetzt hat. Ausgerechnet an dem Tag musste Capybara, der stachelige Fan, sich in dem nordspanischen Gebirgskaff besagten Namens herumtreiben, in die wässrigen Abgründe der Schwarzen Lagune starren und sich von Horrorstorys die Sinne verwirren lassen, statt sich daheim auf den billigen Stehplätzen die Beine in den Bauch zu zittern.
Zum Glück war die Posada La Casona, in der das treulose Wasserschwein vorübergehend Quartier bezogen hatte, technisch auf dem allerneuesten Stand. Es gab Laptop und WLAN, Gratisverbindung und Maus, so dass der kurzzeitig exilierte Anhänger bereits Sekunden nach dem Schlusspfiff den definitiven Endstand vor sich hatte. Um die Unterlegenen, vor allem die aus dem Nachbarstädtchen D., nicht unnötig weiter zu quälen, muss das Resultat an dieser Stelle kein weiteres Mal in vollem Wortlaut dargelegt werden.
Zum Schluss und ausnahmsweise noch dieser Aufruf in eigener Sache: Wer kennt jemanden, der in der nächsten Saison mit Sicherheit ein bis zwei Tore pro Spiel schießt? Und das nächste Mal: Wieso der weibliche Orgasmus in Spanien auch noch „la corrida“ genannt wird. Oder: Was eine Autobiografie von einer Autopornografie unterscheidet.
Übrigens: Sex und Erotik kommen in der CG leider immer noch zu kurz (behauptet zumindest Geronimo, ihr treuester Leser, auch wenn er das öffentlich niemals zugeben würde).
© Georges Hausemer

© Georges Hausemer

27. April 2010

GEISTIGES EIGENTUM (1)

Sportberichterstattung kam in diesen Kolonnen bislang eindeutig zu kurz (Sex und Erotik übrigens auch). Dabei begibt sich Capybara, von klein auf – einst auch als aktiver, wie das damals völlig unelegant hieß, Vorstopper – fußballvernarrt, nun schon seit mehr als einem Vierteljahrhundert regelmäßig in „Grenz“-Situationen, um dort auf den billigen Stehplätzen, Wind, Wetter und steten Würstchendüften ausgeliefert, zu zittern, zu hoffen, zu bangen, zu jauchzen, zu flehen, zu tirilieren und zu toben. Ja, auch zu toben, obwohl man den für ihre Gutmütigkeit, zuweilen auch Trägheit bekannten Wasserschweinen solche Gefühlsausbrüche gar nicht zutrauen würde, nicht wahr?
Nun, gestern war mal wieder so ein Sonntag auf den immer bröckeliger werdenden Zuschauerrängen, ein überaus erfreulicher gar, weil Capybaras Lieblingsmannschaft zwar, wie so oft in dieser Saison, spielerische Klasse vermissen ließ, aber am Ende dennoch als Sieger vom Spielfeld trabte. Da ihr einziger Konkurrent um die Krone den Tag später am Abend mit einer Niederlage ausklingen ließ, darf sich Capybaras Leib- und Magentruppe nun berechtigte Hoffnungen auf einen neuerlichen Titelgewinn machen, nach viel zu vielen, viel zu langen Jahren ohne jegliches Erfolgserlebnis.
Doch aufgepasst! Noch sind drei wichtige und schwierige Spiele zu bestreiten. Noch weiß niemand, welch perfide Tricks sich der andere Meisterschaftsaspirant womöglich einfallen lassen wird, um auf die eine oder andere, womöglich nicht ganz koschere Weise weitere kostbare Punkte einzufahren. Die schlichte Masche mit der Rauferei im Kabinengang, dem anschließenden Spielabbruch und der prompten Zuweisung des Sieges werden die Konkurrenten gewiss nicht noch einmal wagen. Aber vielleicht tüfteln sie längst an anderen fiesen, kleinen Gemeinheiten, um Capybaras Team (welches der Wassereber übrigens am liebsten schwarz-weiß gestreift wie flotte Zebras auflaufen sieht) kurz vor dem Ziel doch noch abfangen zu können. In dem Fall muss sich C. in Zukunft wohl definitiv nach einer anderen, nerven-, herz- und gemütschonenderen Sonntagsnachmittagsbeschäftigung umsehen. Dann geht in diesen Kolonnen möglicherweise auch endlich häufiger von Sex und Erotik die Rede.
Übrigens: Heute ist der Tag des geistigen Eigentums.

© Georges Hausemer 26.4.2010

23. April 2010

OP DER RULL (7)

Capybara im Fernsehen, demnächst, in echt, mit Sonnenbrille und Sonnenlicht auf dem stumpf und brüchig gewordenen Rauhaarfell. Echt! Und endlich mal wieder eine – wenn man so will, aber wahrscheinlich noch lange nicht für jeden Zoo-, Märchenpark- oder Holzhüttenbewohner – erfreuliche Nachricht, nach all den end- und atemlosen düsteren, kalten, unter Schnee begrabenen Wochen, nein, Monaten. Kann sich überhaupt noch jemand an den vergangenen Winter erinnern? Dabei ist er erst seit kurzem passé.
Schon viel länger ist Weihnachten vorbei. Und auf den Tag genau so lange liegt die letzte Ausgabe dieser stacheligen Gazette zurück. Eine Schande, sowas! Aber wie für (fast) alles gibt es auch hierfür Erklärungen, Entschuldigungen gar, und zwar durchaus gute. Capybara, Regisseur, Hauptdarsteller und Produzent dieses Blattes in Personalunion, hatte es nämlich kurz nach seinem letzten Eintrag (an Heiligabend 2009!) gehörig erwischt. Auf den Rippen, am gleichnamigen Fell, im Brustkorb und noch tiefer, mitten im linken vorderen Lungenlappen – ein Knoten, der alles zusetzte, ein Stopfen, der nicht mehr aus dem Kanal weichen wollte, mit dem Resultat: Arzt im Hotel in Damaskus, Notaufnahme in der dortigen Clinique St. Louis, nach der Heimkehr zuerst Haus-, dann Herz-, schließlich Lungenarzt und zuguterletzt der Herr Doktor Chirurg mit dem Skalpell, der Capybara den versehrten Lappen einfach wegsäbelte, ritsch-ratsch-weg-mit-dem-Pfropfen. Lobektomie nennt sich solch ein Eingriff, sogar wenn er, wie in diesem Fall, in dem hübschen elsässischen Städtchen Strasbourg vorgenommen, dort aber mit einem C geschrieben wird: „lobectomie“ – anatomiegerechte Organlappenextirpation, wie das dtv-„Wörterbuch der Medizin mit über 500 farbigen Abbildungen“ auf Seite 438 schreibt (jetzt weiß C. endlich, warum er sich diesen papiernen Ziegel im Januar 1994 zugelegt hat). In vorliegendem Fall handelte es sich – falls es jemanden interessiert – um die gewaltsame, unter Vollnarkose (des Patienten natürlich) vorgenommene Entfernung von 80 Prozent des linken vorderen Lungenlappens eines gewissen Herrn Capybara, der nie zuvor in Strasbourg gewesen war und sich aus gebotenem Anlass per Taxi hinbringen ließ. Immerhin das!
Seit jenem Eingriff sind sieben Wochen vergangen. Allmählich kommt C. wieder zu Kräften und Ideen, auch wenn’s noch nicht berauschend ist mit seinen jüngsten Einfällen, wie diese Zeilen ganz eindeutig belegen. Aber üben wir Nachsicht, für einmal. Und freuen wir uns mit ihm, dass er den Weg ins Freie ab und an bereits wieder findet. Wie heute, da er sich, der besagten Fernsehaufnahmen wegen, mal wieder in seinem eigentlichen Umfeld tummelte, plapperte und plapperte, ein paar Aufnahmen von seltsamen Apparaturen, einer freundlichen, bestens informierten Journalistin sowie ihrem nicht weniger sympathischen Kameramann schoss und sich selbst ablichten ließ, in allen möglichen und unmöglichen Stellungen und Positionen, von vorne, von hinten, von oben und unten, von der Seite und im Schal, im Wintermantel und im Sommerhemd, nackt bis auf ein paar Härchen, stotternd bis schluckend, am Ende völlig ohne Puste, was kein Wunder ist bei nur noch einer Dreiviertel-Lunge, die nun, nach so vielen, komplizierten Buchstaben erst recht nach Luft schna...

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P. O. BOX (6)
Esch-au-Lac. Was hier folgt, ist ein Text, der lange vor der Verkündung der/des diesjährigen Servais-Preisträgerin/Preisträgers verfasst, aber aus nicht mehr nachvollziehbaren Gründen nie veröffentlicht wurde. Für eine offizielle Publikation desselben ist es jetzt, nach der Verkündung der/des Servais-Preisträgerin/Preisträgers 2010 natürlich zu spät – es sei denn, sein Verfasser will sich Missgunst und Neid vorwerfen lassen, was er natürlich keineswegs beabsichtigt. Die „Capybara Gazette“ indes schämt sich bekanntlich für kaum etwas, auch nicht dafür, ganz und gar unpassende Meinungs- und andere Unmutsäußerungen zum ganz und gar unpassenden Zeitpunkt auf ihre werte wie auch weniger werte Leserschaft loszulassen, in der Hoffnung, dass nichts verlorengeht, was dieser Öffentlichkeit zuteil zu werden gehört.
Nun aber Schluss mit der langen Vorrede! Hier also besagter Text, den mancher sich durchaus hinter die Ohren schreiben kann, nach der Lektüre aber besser doch schnell wieder vergessen soll:

„Ich bin Tania Naskandy“
Eine kleine Selbstbezichtigung / Von Georges Hausemer

Nun, rechtzeitig zum Internationalen Tag des Buches am 23. April, hat also auch Luxemburg seinen Literaturskandal. Na ja, ein Skandälchen, von dem ohnehin kaum jemand Notiz nimmt. Aber immerhin. Also der Reihe nach.
Im Lëtzebuerger Land Nr. 11 vom 19. März 2010 unterstellt eine Rezensentin namens „Elise Schmit“ dem Schriftsteller und Verleger Guy Rewenig, „in Wahrheit“ die Autorin „Tania Naskandy“ zu sein, die unlängst im Rewenig-eigenen Verlag ultimomondo den Roman „Sibiresch Eisebunn“ veröffentlicht hat. Als Beleg für ihre These führt die Kritikerin nicht nur angeblich „frappierende thematische und stilistische Überschneidungen“ an. Auch die Tatsache, dass eine „Tania Naskandy“ und ihre vermeintlichen Publikationen in „Architektur- und Fachzeitschriften“ nicht einmal über die Suchmaschine Google ausfindig zu machen sind, beweist ihrer Meinung nach, dass es eine Romanautorin mit Namen „Tania Naskandy“ definitiv nicht gibt.
In dieser Hinsicht hat „Elise Schmit“ recht, was nicht nur ihre eigenen Nachforschungen belegen. Auch Recherchen seitens des „Centre national de littérature“ in Mersch haben ergeben, dass in Echternach, wie von der mysteriösen Autorin selbst behauptet, weder jemals eine „Tania Naskandy“ geboren wurde noch irgendwann eine – angeblich ungarischstämmige – Person oder gar eine ganze Familie mit diesem Nachnamen gelebt hat.
In einem anderen Punkt allerdings irrt die detektivisch ambitionierte Zeitungsmitarbeiterin gewaltig: „Tania Naskandy“ ist nicht Guy Rewenig! Denn ich, der Verfasser dieser Zeilen, ich bin „Tania Naskandy“! Und ich wundere mich, nebenbei gesagt, schwer, dass der echte Guy Rewenig es bislang nicht für nötig hielt, die von „Elise Schmit“ in die Welt gesetzte Falschmeldung auf seine bekannt bissige Art richtigzustellen und ihrer Erfinderin gehörig den Marsch zu blasen.
Die Fakten also. Beim Fall „Tania Naskandy“ handelt es sich, wie könnte es in Zeiten von hegemannscher Intertextualität und journalistisch-literarischen Hochstaplertums à la Ryszard Kapuscinski auch anders sein, um einen Fall von skrupellosem Autoplagiat mit anschließender Selbstbezichtigung. Was in der Praxis bedeutet, dass ich, der Verfasser dieser faktentreuen Beichte, unlängst hingegangen bin, meinen 1998 erstmals erschienenen Roman „Iwwer Waasser“ unwesentlich um- und in nicht allzu beträchtlichem Maße neu geschrieben, mit einem geänderten Titel und einer neuen Autorenangabe versehen und zur Publikation bei besagtem ultimomondo-Verlag eingereicht habe. Mit Erfolg, wie man inzwischen weiß.
Weniger bekannt ist indes, dass ich meine Urheberschaft an „Sibiresch Eisebunn“ durch weiteres umfangreiches Faktenmaterial jederzeit belegen kann. Dazu zählt die Tatsache, dass ich im Sommer 2008 tatsächlich eine Reise mit der Transsibirischen Eisenbahn von Beijing nach Moskau unternommen habe. Oder wäre ernsthaft denkbar, dass jemand ein Buch mit dem Titel „Sibiresch Eisebunn“ schreibt, der nie zuvor mit selbiger unterwegs war? In dem Fall wären wir endlich bei der auch hierzulande unbedingt einmal öffentlich zu stellenden Frage angelangt, was Literatur ganz allgemein zu leisten imstande ist, was Schreiben bedeutet und was Lesen, wie das Verhältnis des Lesers zu Autor und Werk und das der Autoren zur tatsächlichen Realität und zur Wirklichkeit ihrer Fiktionen zu deuten und zu bewerten ist. Aber lassen wir das ...
Kommen wir lieber noch einmal zur Causa Schmit-Naskandy/Hausemer-Rewenig zurück. Je länger man über dieses unselige Drei/Vierecksverhältnis nachgrübelt, eingedenk der nun ein für allemal geklärten Identität der inkriminierten Romanautorin, umso plausibler erscheint einem eine ganz andere Möglichkeit. Und zwar die, dass das wahre Gespenst in dieser literarisch-publizistischen Verneblungsaktion die Auslöserin des Skandälchens höchstselbst ist: „Elise Schmit“, die sich auch dadurch verdächtig macht, dass sie sich bis vor nicht allzu langer Zeit noch „Elisabeth Schmit“ nannte, nie persönliche Daten preisgibt – höchstens im Internet, aber dieser Quelle traue ich schon lange nicht mehr – und sich auch sonst auffällig bedeckt hält. Könnte es, mal einfach so gefragt, könnte es nicht eventuell sogar sein, dass Guy Rewenig im Lëtzebuerger Land nicht nur allwöchentlich seine Unsäglichkeiten aus „Happyland“ verbreitet, sondern unter dem Allerweltsnamen „Elise Schmit“ auch noch die Werke seiner luxemburgischen Schriftstellerkollegen kommentiert?

© Georges Hausemer 23.4.2010

© Georges Hausemer