15. November 2009

OP DER RULL (3)

Capybara verabschiedet sich in den Herbst. Schneller als folgende Zeilen zu lesen sind, wird die alljährliche August-Herrlichkeit auch schon wieder vorbei sein. Schluss mit den freien Parkplätzen und wie leergefegten Bürgersteigen, wenn Capybara, wie fast jeden Tag morgens kurz nach acht, mit Zeitungen und Post unterm Arm durch die Fußgängerzone schlendert. Schluss mit den charmant lächelnden, weil größtenteils beschäftigungslosen Kassiererinnen im Supermarkt. Schluss mit dem Käsehändler, der seine wenigen Kunden auf einen Espresso einlädt, damit sie eine Weile länger in seinem Laden bleiben und ihm die Langeweile vertreiben. Schluss mit dem ausgestorbenen Spielplatz hinter Capybaras Garten, wo sich bald wieder wie am Spieß schreiende Kinder tummeln werden und im Dunkeln die Jugendlichen, die heimlich Haschischzigaretten drehen und sich mit vollen wie mit leeren Bierflaschen gegenseitig auf die Köpfe schlagen.
Allmählich wird es Zeit, dass die Wasserschweine von der nördlichen Sommerweide kommen und, im Vorbeiziehen Don Paul grüßend, nach Süden ziehen, ans Wasser, zum Salz, um sich im Muschelsand zu wälzen.
Heute morgen begegnete Capybara auf seinem Weg zur Post einer jungen Frau mit Burka. Olivengrün war ihr Ganzkörper-Zelt, ihr Gesicht halb verdeckt, nicht einmal ihre Schuhe konnte man erkennen. Sie hielt einen kleinen Jungen bei der Hand, er trug ein T-Shirt, auf seiner Brust war zu lesen: „Jesus loves you“.
Bevor Capybara sich zurück in sein Schreibställchen begab, kehrte er auf einen Milchkaffee in sein Stammlokal ein. Dort las er weiter und kam auf eine Idee: Wie wäre es, wenn Luxair, Capybaras heimatliche Fluggesellschaft, dereinst einen Schriftsteller mit Notebook in die Abfertigungshalle ihres nagelneuen Terminals setzen und ihn das dortige Treiben beobachten und beschreiben lassen würde? Wie unlängst geschehen am Londoner Flughafen Heathrow, wo Alain de Botton die kuriose Stelle des Writer-in-Residence einnahm. Eine Woche lang führte der Autor dort sein Airport-Tagebuch, das demnächst als Buch erscheinen wird (oder inzwischen bereits erschienen ist) und während der Niederschrift auf einer Riesenleinwand hinter seinem Schreibtisch von den Passagieren live mitgelesen werden konnte. Wie zu hören ist, leidet auch Luxair derzeit heftig unter der weltweiten Wirtschaftskrise. Vielleicht würde eine solche PR-Aktion ihr endlich wieder positive Schlagzeilen bescheren – und auch ihrem Schreibgast jene Aufmerksamkeit einbringen, die ihm im Land der Wasserschweine nur höchst selten angedeiht.
Noch etwas kam Capybara unter die Augen, und zwar zufällig die neueste Ausgabe des ADAC-Clubmagazins. Darin wurde für Navigationsgeräte für 99,90 (statt 239.-) Euro geworben, unter der Überschrift „Mit echten 3D-Ansichten leichter ans Ziel“ und mittels einer großzügig dekolletierten Brünetten, die den Apparat der „neuen Premium-Navi-Klasse“ just neben ihren aparten, halb freiliegenden Busen hielt. So viel Realismus erinnerte Capybara prompt an die Pflichten, die ihn vor dem Ende des Sommers noch in seinem Arbeitsställchen erwarteten. Seit Wochen, nein, Monaten, saß er nämlich an einer neuen, auf Romanlänge auszubauenden Geschichte, in der es ebenfalls um Oberweiten geht. Die heißt zwar nicht „3 D“, aber so ähnlich. Ob Leser der „ADAC motorwelt“ das fertige Buch aus Capybaras Werkstatt wohl jemals zur Hand nehmen werden?
Über andere Dinge, die im Leben so passieren, wird Capybara demnächst aus dem Ausland berichten. Zunächst mit einem leckeren Pintxo zwischen den Zähnen; später dann mit einer Wurststulle in der Hand, aber unter afrikanischer Sonne und aus dem sogenannten Konferenzwaggon eines Zugs, der durch Wüstensand kriecht. In besagtem Konferenzwagen dürfen nämlich auch Wasserschweine ihre müden Beinchen ausstrecken und genüsslich eine rauchen.

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