23. Januar 2011

OP DER RULL (15): VON MEEREN UND MENSCHEN

Wasserschweine sind Wasserwesen. Wer könnte, bei dem Namen, auch anderes über sie denken. Folglich kennt Capybara in seinem bisherigen Leben ein Bedauern nur: Immer schon hätte er sich gern stärker auf die Meere eingelassen, hätte sich auf sie spezialisieren wollen, wie andere Welten-, Park- und Sumpfwanderer auf die Winde, hätte gern die an die jeweiligen Landesränder und Inselküsten grenzenden Meere auswendig gelernt, hätte gern Verbrüderung mit den Ozeanen gefeiert, Freundschaft mit Golfen, Meerbusen und Fjorden geschlossen. Doch schon als Kleintier musste er, wie jedes andere Tierkind auch, gewisse Regeln beachten: Mittagsschlaf, Distanz zu Klippen, höllische Achtung vor Hochwasser, Schutz vor Winden, die an Palmen rütteln, an Bretterverschlägen, an Zäunen, Gittern, Käfigen. Vor allem aber musste er: schwimmen lernen. Mit den Pfoten das Nass treten, mit dem Stummelschwänzchen steuern, mit der platten Nase die jeweiligen Richtungen anzeigen lernen.
Manche behaupten, Wasserschweine hielten, weil sie sind, was sie sind, nichts von Begriffen wie Gefühl, Geist, Wille, Bewusstsein. Aber das stimmt nicht. Richtig ist vielmehr, dass nicht das Tier, sondern der Mensch ein Irrläufer der Evolution ist, ein zugleich intelligenter Störfaktor und saudummer Zerstörer, dessen Eitelkeit es ihm unmöglich macht, eine Außenperspektive zu sich selbst einzunehmen. Dazu im Vergleich der Molch, der – bei Hebel ist’s – unten im Brunnen hockt. Klagt er, beschwert er sich, verspürt er Langeweile in seinem feuchten Element, obwohl er noch nie etwas von den Demonstrationen in Tunis, Kairo und Algier sowie von der überstürzten Flucht des Königs von Tunesien gehört oder gelesen hat, von Steinigungen in Teheran, Attentaten in Texas? Nun gut, auch Wasserschweine können, sofern sie nicht die allertollsten Körperakrobaten sind, nicht in den Brunnen hinabsteigen und den Molch um seine Meinung fragen, er würde eh nicht antworten, denn auch er hat seinen Stolz.
Wie die Meere. Auch sie müssen niemandem etwas beweisen. In ihnen finden die Sehnsucht und die Verlorenheit zusammen, das Verstreute, das Nichts und die absolute Leere. Die Stimmen der Meere sind Seufzer der Zeit. Die Bewegungen ihrer Wellen, ihrer Haut, ihrer Gedärme perfekte Augenblicke. Capybara dankt dafür, sie erleben zu dürfen. Amen.

© Georges Hausemer

© Georges Hausemer

15. Januar 2011

OP DER RULL (14): EHEMALS ATLANTIS

Wie Wasserschweine halt so sind, gelegentlich: Hängen mit der Schnauze im westseitigen Atlantik, lassen den Bauch genüsslich über den dschungelähnlichen Krater des Vulkans mit dem schönen Namen San Antonio baumeln und schlagen wütend mit dem Schwänzchen nach den ost- und südseitigen Nachbarinseln. Nichts für ungut, so lassen ein Winter, zwei wechselnde Jahre und drei bis vier heimatferne Wochen sich einigermaßen aushalten. Dabei, auf den flüchtigen Blick durch die Sonnenbrille hin, Trägheit vortäuschend, aber im Grunde schwer am Überlegen und Planen. Was der nächste Sonnenaufgang wohl bringen wird, der bevorstehende Abstecher ins inselumspannende Bananenstaudenlabyrinth, die genaue Beobachtung der ahnungslosen Passanten auf der Plaza de España von Los Llanos de Aridane, Richtung Calle Real, die bis vor kurzem noch nach General Francisco Franco benannt war und nun ins andere, ins königliche Extrem gefallen ist.
Passanten also: Paare, Einzelgänger, Alte, mit und ohne Hund, Knochengestelle und Fettleiber (Letztere durchaus keine neuzeitliche Erscheinung, denn bereits 1590 schrieb ein gewisser Leonardo Torriani über die Bewohner von La Palma: „Diese waren weißere und dickere Menschen als die anderen Inselbewohner“), unfreiwillige Verströmer der scharfen Gerüche, die aus den offenstehenden Fenstern der umliegenden Restaurantküchen wabern. Mitten unter ihnen allen: Capybara, von der nächtlichen Feuchtigkeit noch bibbernd, gleichzeitig schon von der Morgensonne ermattet. Warum Señor Chiguire sich dennoch recht wohl fühlt im Schatten der indischen Lorbeerbäume auf dem Zentralplatz? Ringsum entdeckt er Gesichter, vernimmt er Stimmen, Töne und Geräusche, die ihn an sein erstes, sein eigentliches Heimatland erinnern: Venezuela. Auch die Hunde Makaronesiens, der Glücklichen Inseln, kommen Capybara bekannt vor: wilde, räudige, herrenlose Köter, die offenbar nichts Besseres zu tun haben, als mit ihrem Gekläffe und Gejaule den im Moment noch intakten Ruf des Eilands zu ruinieren, von dem manche behaupten, es sei einst als Atlantis untergegangen und irgendwann später als westlichste Insel der Kanaren aus den Meeresfluten wiederauferstanden.
Geschichten, wie die ruhelosen, nach Wärme und Erklärungen gierenden Wasserschweine sie zwar lieben, aber dafür noch lange nicht glauben.
© Georges Hausemer

© Georges Hausemer