8. August 2011

OP DER RULL (17): DER SOMMER DER ANDERN

Neid nagt an mir, während ich mal wieder hier hocke, mit dem Hintern im Schlamm und Nässe bis zum Kinn in diesem virtuellen mitteleuropäischen Hochsommer. Vor Kälte bibbernd, stelle ich mir meine unwahrscheinlichen Leser vor. Sie sitzen irgendwo rund ums Mittelmeer, mit den Zehen im wahrscheinlich ungesund aufgeheizten Sand spielend. In der einen Hand einen Barracuda-Cocktail (Orangensaft mit Amarulla-Likör und geriebener Muskatnuss), von Papierschirmchen gekrönt; in der andern eine Tube Sonnencreme, vielleicht sogar ein nicht zu schweres (Materialgewicht!) Taschenbuch, in das sie hin und wieder einen blinzelnden Blick werfen. Von den Bars und Caféterrassen längs der Strandpromenade wabert Musik herüber – Katy Perrys „Firework“ oder, wahrscheinlicher, Caro Emerald mit „A Night Like This“, bei der niemand (Wasserschweine schon gar nicht) weiß, ob sie frühere Hits nachsingt oder ihre neuen Lieder nur auf alt getrimmt sind –, ein schmeichelndes Lüftchen vom Wasser her, nichts Bedrohliches, nichts Vergleichbares mit dem, was unsereins sich antut, als Reaktion auf diesen Sommer, der nur für die andern da zu sein scheint. Fragen zum Beispiel: „Wer von uns hatte nie sein gelobtes Land? Seinen grandiosen Tag? Seine Sehnsucht nach Exil?“ Dazu ebenfalls eine musikalische Kulisse, aber was für eine! Post-Postrock, falls es diese Richtung zur Zeit von „Yanqui U. X. O.“ überhaupt schon gab. Ein ziemlich brutales Werk der kanadischen Gruppe Godspeed You! Black Emperor – einer ihrer Hammersongs müsste eigentlich als Nationalhymne aller Capybara-Herden fungieren, falls diese eine solche denn jemals nötig hätten. Aber wofür?
Bleibt also nur dieser Sommer, der Sommer der andern, ein Sommer voller – Achtung: Schadenfreude! – erbärmlich stinkender Giftalgen und gefährlich nässender Schirmquallen, mit denen unsere lieben Nachbarn sich herumplagen müssen. Ich teile den Trost der Medusen mit Manuel Rodríguez Rivero, den hierzulande niemand kennt, zum Glück. Während ich mir, klamm bis auf die Knochen, das Moos aus den Achseln kratze und die Flechten von den Schwimmenhäuten zwischen den Zehen, sitzt mein Schicksalsgenosse fröhlich in seinem Ohrensessel und fabuliert besserwisserisch: Almayers Wahn, Augustlicht, Dark House – wer kennte sie nicht? Auch Rodríguez Rivero hält einen Drink in der Hand, Gimlet nennt er ihn, ein Shortdrink aus Gin und Lime Juice Cordial angeblich (was weiß ein Chiguïre schon von alkoholischem Gesöff?), verliert darüber aber kein einziges Wort. Stattdessen wirft er sich kulinarisch in die Brust. Regt sich herrlich darüber auf, dass die kürzliche Schließung seines meistgehassten Restaurants El Bulli von einem publizistischen Gedröhne sondergleichen begleitet wurde. Von nicht weniger als drei Dutzend Glossen, Kommentaren, Analysen und Kondolenzbezeugungen, die unsereins eh nie zu Gesicht bekommen wird, die aber deswegen nicht weniger zutreffend beziehungsweise überflüssig sind.
Komm, Manuel! Komm endlich runter von deinem wolkenähnlich schwebenden Sitzmöbel! Frag dich nicht länger: Würde Cervantes, wenn er heute lebte, öffentlich verkünden, dass er endgültig zu schreiben aufhört? Würde Shakespeare zu einer Pressekonferenz einladen, um mitzuteilen, dass keine weiteren Dramen von ihm zu erwarten sind? Dass Mahler sich auf eine einsame Insel zurückzieht und nur noch, wie später Nabokov, Schmetterlinge jagt? Dass Picasso eines Tages die Ateliertür knallend hinter sich zuzieht und im Zorn für immer verschwindet?
Aufgepasst! Überall planschen Medusen herum, sogar im Brackwasser, das sich unter den Hängebäuchen von Wasserschweinen sammelt. Da nützt es dann nichts mehr, dass tausend Jahre alte Affenbrotbäume wie riesige Urtiere aussehen und in einer grünen Wand aus Kokospalmen, Bambusstauden und Takamaka (siehe Amarulla-Cocktail!), afrikanischen Tulpenbäumen, stehen. Dass dazwischen Orchideenblüten leuchten, man Jakobsfrüchte (siehe Santiago de Compostela – „Sternenfeld“ – und „pulpo gallego“) entdeckt, groß und schwer wie Medizinbälle. Dass aus dem Laubdach die hellen Grunzlaute der Makis, einer dort heimischen Lemurenart, dringen. Vor dem Galeriewald mehlfeiner, karamellbrauner Sand, ein stiller Strand, beidseitig eingerahmt von pechschwarzem Lavageröll ... Unsere lieben Nachbarn, Freunde und Verwandten schaffen’s sowieso nur bis an die Côte d’Azur, wenn überhaupt.

PS: Wussten Sie übrigens, dass mit „capoeira“ nicht nur ein brasilianischer Kampftanz gemeint ist, sondern auch ein Schafstall in Galicien, einer hauptsächlich von toten Heiligen und noch zu Lebzeiten wutrot angelaufenen Krakenessern besiedelten Gegend im äußersten Nordwesten Spaniens?

© Georges Hausemer

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