24. Dezember 2009

Op der Rull (6)

Nun hat Capybara seine erste Nacht am Fuβ des Qasyun-Berges hinter sich. Am Abend zuvor schlürfte er sein erstes syrisches Linsensüppchen, genoss sein erstes Tabbouleh (wenig Hirse, aber viele frische Kräuter, die sich zwischen seinen Zähnen verfingen), entdeckte unter drei Schichten dünnem Fladenbrot die ersten, apart gewürzten Hühnchen-Kebab-Stückchen, die sich hier Shish Taouk nennen. Am Morgen, noch im Bett, fiel ihm ein wärmender Sonnestrahl ins Auge, er war gleich hellwach, hörte erbärmlich miauende Katzen und wunderte sich, dass er um fünf Uhr früh nicht bereits von den Muezzin-Rufen wach geworden war.
Dann aber schnell raus! Kleines Frühstück, noch im Pyjama auf der Terrasse, und das zwei Tage vor Heiligabend, anschlieβend mit geschultertem Rucksack die Al-Afif Street hinunter. Populäres Viertel, kleine und kleinste Läden, Kleider- und Schmuckgeschäfte, Blumenhändler, Bäcker, Friseure, Konditoreien, deren Auslagen so verlockend sind, dass Capybara mehrmals rasch die Straβenseite wechselt, um nicht schon vormittags in Versuchung zu geraten. Stattdessen fotografiert er aus einem hübschen Winkel besagten Qasyun-Berg mit seinen bebauten Hängen, im Vordergrund eine Straβenkreuzung, ohne Polizist vorsichtshalber. Auch Raketen, heiβt es, soll man in Syrien besser nicht ablichten, keine Soldaten, keine offiziellen Gebäude. Aber Raketen sind mitten auf den Avenuen und in den Parks von Damaskus sowieso eher selten.
Es kreuzen Capybaras Weg: vornehme ältere Herren im Anzug unter modischem Mantel, mit Krawatte, ältere Damen, viele in unförmigen schwarzen Umhängen und mit Kopftuch, junge Frauen, auch mit Kopftuch und zusätzlicher Sonnebrille, meist mit riesigen Gläsern und goldenen Bügeln.
Eigentlich sollte Capybara Heiligabend im Wüstenkloster Mar Musa verbringen. So war es zwei Tage zuvor mit Nada ausgemacht worden. “Auf Spanisch bedeutet ‘nada’ nichts, aber im Arabischen heiβt der Name Wiedergeburt”, hatte die junge Frau dem Gast aus Europa bei ihrer ersten Begegnung erklärt. Treffen um 14:00 Uhr, danach einstündige Fahrt in den Norden von Damaskus, dort 400 Steinstufen hochklettern und endlich das majestätisch aus der Ebene emporragende Felsenkloster erreichen. Warme Kleidung nicht vergessen! Dann in der Wüste kann es nachts bekanntlich empfindlich kalt worden, und Heizung haben die Mönche und Nonnen von Deir Mar Musa nicht.
Schon lange vor 14:00 sitzt Capybara auf seinem gepackten Kleidersack, als plötzlich eine SMS von Nada kommt. Im Moment könne sie weder anrufen noch Damaskus verlassen, aber sie würde sich bald wieder melden. Inzwischen es ist kurz vor 17:00. Bald werden erneut die unzähligen Damaszener Muezzine schreien, längst ist es auch am Rand der Wüste kühl geworden, allmählich legt sich die Nacht auf die Stadt, doch “nada de Nada”. Im Kloster wird man auch dieses Jahr ohne Gast aus der Welt einzigem Groβherzogtum Weihnachten feiern müssen.

© Georges Hausemer

18. Dezember 2009

P. O. BOX (5)

Esch-au-Lac. Mit der guten alten Post werden ja kaum noch Feiertags- oder Neujahrbotschaften verschickt. Stattdessen kommen die Grußadressen in letzter Sekunde elektronisch, per Mail. In allerletzter Sekunde kann man sie entweder erwidern oder per simplem Mausklick ruckzuck in den Papierkorb schmeißen.
Heute Morgen allerdings erfuhr ich, wie trotz allen Fortschritts immer noch Neuigkeiten zirkulieren: von Mund zu Ohr, als hundsgewöhnlicher Tratsch und Klatsch. Schon in aller Frühe, es war noch stockdunkel draußen, saß ich in meiner Lieblingskneipe und wärmte mir die klammen Finger an einer heißen Kaffeetasse. Auch der Nebentisch war besetzt. Mit ..., wenn man so will, Kollegen, doch mir war nicht danach, mich an ihrem Gespräch zu beteiligen. Lieber hörte ich ihnen, während ich fahrig ein paar Tageszeitungen durchblätterte, dabei zu, wie sie sich gegenseitig ihr Leid klagten. Es ging, kurz gesagt, um Geld. Um Geld, das ihnen widerrechtlich vorenthalten wurde, um Geld, das jemand unterschlagen oder illegalerweise eingestrichen hatte. Um böses Geld also, das böse Gedanken weckt und womöglich böse Taten folgen lässt.
Bevor ich meine Tasse leerte und mich auf den Heimweg machte, sagte ich einen einzigen Satz. „Freunde“, sagte ich, „darüber müssen wir einmal in aller Ruhe miteinander reden.“ Wenn das keine hübsche Pointe zum Jahresende war! Unsere Anwälte sollten jedenfalls schon mal fleißig ihre Bleistifte spitzen.

© Georges Hausemer 18.12.2009

OP DER RULL (5)

Vor kurzem hat Capybara begonnen, sich äußerst unbeliebt zu machen. Und zwar nachts. Dann nämlich schnarcht Capybara seit neuestem ganz fürchterlich. Nicht nur extrem laut, sondern überdies in variablen Klangfarben, die von rollendem Röcheln bis zu krächzendem Gewürge reichen. Das wurde Capybara jedenfalls berichtet, denn selbst hört er sich natürlich nicht schnarchen, weil er dann schläft oder möglicherweise von seinem eigenen Geschnarche schon wach geworden ist, im selben Moment aber mit dem Schnarchen aufgehört hat, dann eben nicht mehr schläft und folglich auch keine unkontrollierten Geräusche mehr von sich gibt.
Sei’s drum, das Jahresende naht, und wie immer um diese Zeit gerät Capybaras Leben für eine Weile ziemlich aus dem Lot. Mal holt er sich, regelmäßig ab Mitte Dezember, eine Erkältung oder sonst eine rätselhafte Infektion, mal zieht er sich eine Muschel-, mal eine Marzipanvergiftung zu, entweder streikt plötzlich sein Computer oder in seiner Höhle fallen gleichzeitig sämtliche Lichter aus. Dieses Jahr nun sind es besagte Schnarchattacken, die auch noch seine Allerliebste Nacht für Nacht von seiner Seite vertreiben, wüsteste, aber durchaus berechtigte Beschimpfungen auf ihn niederprasseln lassen und ihm tagelang ein miserables Gewissen bescheren.
Längst hat Capybara einen schlimmen Verdacht: Schuld an dem ganzen Ärger ist der Weihnachtsmann. Weihnachtsmänner, davon ist Capybara mittlerweile fest überzeugt, sind die natürlichen Feinde der Wasserschweine. Aber warum bloß?
Da seine falschbärtigen Gegenspieler das Feld nicht freiwillig räumen werden, geht Capybara für einmal mit gutem Beispiel voran. Schon vor Wochen hat er sich ein Flugticket besorgt und ein Visum in seinen Pass stempeln lassen; in wenigen Tagen wird er sich ins Café Noufara setzen und den Damaszenern mit einem „qahwa“ zuprosten. Das hört sich doch verlockend an. „Qahwa siadeh“, „masbut“ oder „arrika“ – stark, mäßig oder wenig gesüßter Kaffee im Schatten der Omaijaden-Moschee, im wohl berühmtesten und malerischsten Café der Damaszener Altstadt. Geschichtenerzähler und Flötenspieler soll es dort geben; ihre Stimmen und Töne werden auch noch den lautesten Schnarcher übertrumpfen, falls es denn überhaupt so weit kommt, dass Capybara in orientalischer Umgebung einfach mal so ein Nickerchen hält. Viel wahrscheinlicher ist, dass Wasserschweine sich gerne mit Wasserpfeifen vergnügen, zwischendurch ein Eckchen „baklawa“ naschen und inmitten des Blubberns und Kauens die doofen Kläuse einfach vergessen. Ab Anfang Januar dann hat Capybara für elf Monate wieder Ruhe zuhause. Sofern endlich Schluss ist mit seinem unsäglichen, unerträglichen Geschnarche.

© Georges Hausemer