Cut.
Ein Baum in gleißendem Sonnenlicht, grotesk verkrüppelt. Wie ein uralter Mann mit hochgestreckten Armen, die sich nicht mehr bewegen lassen. Braune, rissige Erde; Sand, zu Beton verhärtet. Krusten, Wind, grell strahlender Himmel, wolkenlos. Im Schatten unter dem Baum ein junger Mann, auf einen Ellbogen gestützt, umzingelt von Schafen, darunter auch ein paar Ziegen. Nirgends ein Hund. Junger Mann mit Schirmmütze. Bald schwingt er sich auf sein Rad, fährt aus dem Nachmittag hinaus in den nur unwesentlich weniger heißen Abend. Zufällig findet er, als der Hinterreifen seines Fahrrads kaputt geht, im knochentrockenen Sand einen Schlüsselanhänger aus Metall, geformt wie zwei Berggipfel über einer Winterlandschaft, natürlich mit Schnee. Bald wird es Nacht; dann kommen die Träume. Von zwei Berggipfeln über einer Winterlandschaft zum Beispiel, natürlich mit Schnee. Mitten im Traumbild ein Mann mit Schirmmütze, der auf allen Vieren vorankriecht, sich von Zeit zu Zeit eine Handvoll Schnee wie süßen Kuchen in den Mund stopft, schließlich mit den bloßen Händen zu graben beginnt und schon wenige Zentimeter unter der Schneedecke auf eine Kiste stößt, die er sofort öffnet, um darin eine weitere Kiste zu finden und in dieser Kiste einen Schlüssel. Oder ist es ein angeknabbertes Menschenohr?
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Innen. Tag. Eine Wand, davor ein Tisch, links vom Tisch ein Hocker (ziemlich niedrig), rechts vom Tisch ein Stuhl (normale Höhe). So beginnt der Tag des Geldverleihers. Er schläft noch. Seine Kunden aber warten bereits. Der versoffene Alte, die verzweifelte Mutter, die Dame im blauen Kleid, von der man nicht weiß, ob sie seine Ehe- oder seine Putzfrau ist. Oder nichts von beidem. Sobald der Geldverleiher seinem Gegenüber die Scheine über den Tisch geschoben hat, erhebt er sich, geht drei Schritte zur Tür, öffnet sie, fordert den andern auf, nun unverzüglich zu verschwinden. Dann ein Geräusch aus dem Nebenzimmer. Ein Schluchzen vielleicht, oder das Scharren müder Füße. Eilig zieht der Geldverleiher eine Schublade auf, kramt eine Pistole hervor, horcht, beugt sich nach vorne, betritt das Nebenzimmer, sieht dort auf einem Tisch einen Einkaufskorb stehen, der – seltsamerweise – leicht wackelt. Im nächsten Moment beginnt das Baby fürchterlich zu schreien. Der Geldverleiher legt es an seine Schulter und streicht ihm sanft über den Rücken.
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Zwei Paare, ein älteres und ein jüngeres. Abend in einer südlichen Altstadt. Bierdosen, Plastikbecher, Zigarettenkippen, Papiertaschentücher, Kartonfetzen, Glasscherben, Sperrmüll. Labyrinthisches Schachbrettmuster. Nach unzähligen Ecken, Kurven und Geraden kehren die Vier schließlich ein. Restaurante La Cepa. Einige freie Tische; erst wenige Kunden sind eingetroffen, lehnen am Tresen, schauen nach draußen, warten ungeduldig, dass der Andrang zunimmt. Die Vier nehmen Platz. Zwei Frauen, zwei Männer. Ein Fernsehapparat hoch unter der Decke. Beide Männer schauen hin. Während die Frauen sich gleich wieder erheben, ihre Handtaschen über die Stuhlpfosten hängen und sich den mit Speisehäppchen gefüllten Tellern und Tabletts auf der Theke widmen. Kurze Stille. Dann ein Aufschrei. Eine der Frauen vermisst ihre Tasche. Sie hatte sie doch eng zwischen zwei Stühle geklemmt, zwischen ihren und den ihres Partners. Nun ist sie trotzdem weg. Fort. In Luft aufgelöst. In Töne aus dem Fernseher, den Lautsprechern. Dampf durch die Abzugshaube, Rauch zwischen den Fassaden. Fast gleichzeitig springen mehrere Gäste auf, blicken zu Boden, starren einander an, fixieren den Stuhl, an dem nun nichts mehr hängt. Eine Erinnerung höchstens.
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Hallende Schritte. Befehle wie Gewehrsalven. Eine junge Frau, noch ein Mädchen fast, stolziert voran, in ihrem Gefolge uniformierte Jugendliche, nach Geschlechtern getrennt, in zwei perfekten Reihen, im Gleichschritt fast, mit durchgebogenem Rücken. Die Frau heißt Marieta. Eigentlich María Teresa, aber diesen Namen hasst sie. Ein Klassenzimmer, hölzerne Bänke, eine Schiefertafel, davor eine von weißem Staub überzogene Rinne, darin mehrere Kreidestücke, nur noch Stummel, reif für den Abfalleimer, der schon bereitsteht. Marieta ruft die Namen der Schüler auf. Bei einem zögert sie, schaut auf, runzelt die Stirn, aber alles nur kurz. Als die Pausenklingel ertönt, springen die Schüler auf und rennen auf den Flur hinaus, nur einer nicht. Nur einer erhebt sich ganz langsam, den Blick auf Marieta gerichtet, die Aufpasserin, die eines Tages sicherlich Lehrerin werden will. Dann geht auch er wortlos hinaus, Marieta öffnet leicht die Lippen, nur einen Millimeter weit, mehr nicht, sagt nichts, bleibt stumm, formt den Namen des Jungen höchstens in Gedanken.
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Am Meer. Sandburgen und Erdlöcher. Darin Kinder, freche Jungs und schreckhafte Mädchen. Ein Mann, der Vater sein könnte. Eine Mutter, die eigentlich vor kurzem verstorben sein müsste. Bei einem Autounfall, wie ihre Tochter behauptet, ihre vermeintliche Tochter. Anrufe mitten in der Nacht, unerwartete Besucher, Ausflüge im Dunkeln. Seeschlangen. Eulen. Würmer, die vorne wässrige Erde in sich hinein schlürfen und hinten wässrige Erde ausscheiden. Eine einzige fließende Bewegung.
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Weihnacht in Skogli. Noch ein Labyrinth. Schicksalsfäden. Ein toter Fahrgast im Zug. Dessen gelähmte Mutter, die von zwei starken Männern eine schmale Treppe hinunter getragen wird. Neben dem altmodischen Wandtelefon im Flur das Foto eines jugendlichen Fußballspielers. Ein mit sternhimmelblauem Laken bezogenes Bett und neben dem Bett, auf dem Fußteppich, ein nacktes Paar beim Sex. Ein verkleideter Nikolaus. Mit Rüschenbart, Geschenksack und Aluminiumschaufel. Tränen unter der Gesichtsmaske.
Filmbilder, aus dem Zusammenhang gerissen; aus dem Gedächtnis eines Wasserschweins, also höchst unvollständig; Minuten nur, Minuten des Zufalls; Capybara-Memoiren; Sekundentexte; Gleichmut und Verwunderung; den kleinsten Teil fürs Ganze nehmen und das Ganze in den Schornstein schießen. Wo war das und wann? Im Wendekreis welchen Tiers, im Sternzeichen welcher Himmelsmacht? Nun ist der Sommer vorbei, auch bereits der September. Keine schöne Zukunft für Borstentiere. Und von Motsi nach wie vor nicht das geringste Lebenszeichen.
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P. O. BOX (7)
Donostia/Esch-au-Lac. Belén Esteban! Der Name besagt Ihnen vermutlich nichts. Und der andere, inoffizielle Name – oder soll man Titel sagen – der nur ganz zufällig in diese ansonsten eher feine Rubrik gerutschten Dame? Princesa del pueblo. Dabei sieht sie weder aus wie eine Prinzessin, noch benimmt sie sich so. Eher wie die vulgärste aller derzeit lebenden Spanierinnen. Und aller aktuellen Südamerikanerinnen noch dazu. Aber so eine mag das Volk, das spanische zumindest. Eine Krawallschachtel par excellence! Eine Revolverschnauze übelster Bauart! Ein Trash-TV-Phänomen, das man eigentlich mit Missachtung strafen müsste. Wären da nicht die jüngsten Umfragen, die unlängst auf der iberischen Halbinsel durchgeführt wurden und bei denen herauskam, dass Belén Esteban, übrigens die Ex des auch nicht gerade wegen seiner Intelligenz berüchtigten Toreros Jesulín de Ubrique, dass also „die Prinzessin des spanischen Volkes“, träte sie demnächst bei Parlamentswahlen an, annähernd acht Prozent aller Stimmen auf sich versammeln und damit zur drittstärksten politischen Kraft in ihrem Land werden würde. Olé! Oder eher: Horror! Schauder! Entsetzen! Wer das nicht glaubt, soll den Namen des Schreckensweibs doch mal bei einer der gängigen Suchmaschinen im Internet eingeben: Belén Esteban. Man wird, so steht zu befürchten, noch viel von ihr hören, irgendwann auch nördlich der Pyrenäen.
© Georges Hausemer
© Georges Hausemer