25. November 2009

P. O. BOX (4)

Esch-au-Lac. Nun haben wir den Schlamassel! Heute stehen die Resultate des diesjährigen nationalen Literaturwettbewerbs in der Zeitung. Pardon, es ist ein einziges Resultat, und das lautet: Niemand hat gewonnen, niemand! Ganze sieben Teilnehmer hatten sich mit ihren Beiträgen um die Auszeichnung beworben, keinen einzigen davon befand die Jury für würdig, mit dem ersten Preis belohnt zu werden. Vergeben wurde nur eine „mention spéciale“ – aber wenn deren Empfängerin den besten Text von allen abgeliefert hat, wieso kam sie damit dann nicht auf die oberste Stufe des Treppchens und wurde bloß mit einem lächerlichen Trostpreis abgespeist? Ja, abgespeist ist das passende Wort. Auch lächerlich entspricht bestens der Art und Weise, wie das hiesige Kulturministerium mit einheimischer Literatur und luxemburgischen Autoren umzugehen pflegt. Und überhaupt: Libretto! Als wäre das jemals ein eigenes literarisches Genre gewesen! Oder sollte da jemand einen roten Teppich ausgerollt bekommen? Sollte da etwa ein Funktionär perfiderweise seine persönlichen Interessen vorgeschoben haben? Nun, in einer Hinsicht ist der Schuss kräftig nach hinten losgegangen: Es wird nicht, wie in all den Jahren zuvor üblich, zu einer offiziellen Preisüberreichung im Literaturzentrum in Mersch kommen, weder eine Ministerin noch ihre Stellvertreterin wird sich hinter Mikrofone und vor Kameras schieben und die leider ebenfalls üblichen Belanglosigkeiten von sich geben können. Selber schuld. Doch im Grunde ist auch nichts anderes von Leuten zu erwarten, die keinen blassen Schimmer von dem haben, mit dem sie sich ihre üppigen Gehälter verdienen. In diesem Fall haben sie sich jedenfalls nichts anderes als schallendes Gelächter verdient.


© Georges Hausemer 25.11.2009

18. November 2009

OP DER RULL (4)

Vom baskischen Bildermeer durchs namibische Sandmeer ins mittelwesteuropäische Regenmeer – Capybara ist in den heimatlichen Stall zurückgekehrt und dreht sich nun dort wie ein sufischer Derwisch. Von Ruhe keine Spur, ganz im Gegenteil. Kein Tag vergeht, an dem er seine Schnauze genüsslich auf die Vorderpfoten betten, die Hinterbeine entspannt von sich strecken und getrost der Dinge harren kann, die da auf ihn zukommen, bevor dereinst beim Weltuntergang, einer islamischen Weissagung gemäß, nur ein einziger Ort auf Erden verschont bleiben wird: Damaskus.

Zuvor aber noch dieses und auch jenes: In einen Kimono gehüllt, knabberte Capybara kandierte Kastanien; die Fahrt zwischen Vilnius und Minsk absolvierte er im blauen Salonwagen der belarussischen Eisenbahn; mit einem für seine Bierexzesse berüchtigten Drehleierspieler besuchte er ein nicht stattgefundenes Konzert im Nordosten des polnischen Marienlandes; mit einem wahrhaftigen Professor aus dem Schwabenland lutschte er an einem molekular gelierten Apfelschnitz; vor Publikum zerstampfte er kartoffelige Klischees in Buchstabensauce; mit einer wahrhaftigen Köchin blätterte er sich durch leckerste Rezepte; mit heftigen Flossenschlägen ruderte er selbst ins Schwabenland, um über seine Reiseabenteuer zu berichten, ohne zuvor oder danach den Professor zu besuchen, der lebt und forscht nämlich in Mainz, wo Capybara auch schon einmal Bauchweh hatte.

Aber was ist das, ein Abenteuer? Und wenn ja, warum? (Gruß an Guychen in Köln, der von einem Blatt namens „Capybara Gazette“ bestimmt noch nie etwas gehört hat – egal.) Wasserschweine verfügen bekanntlich über ein außerordentlich und deshalb äußerst bedenklich kurzes Gedächtnis, weshalb sie gezwungen sind, sich alles, aber auch wirklich alles zu notieren, sofern Schreibzeug vorhanden ist. Andernfalls ritzen sie sämtliche Einzelheiten mit ihren bekanntlich äußerst gefährlichen Klauen als Geheimzeichen in die Erde (oder Beton, Holz, Tatami – je nachdem, auf welchem Untergrund sie ihre Dickbäuche gerade niedergelassen haben). Bleibt nur zu hoffen, dass sie ihre mysteriösen Codes zumindest selbst noch entziffern können, nach einer gewissen Zeit, sechs Stunden, zwei Tage später oder so.

Abenteuer also. Musiker, die vor lauter Zittrigkeit den Hebel ihrer Leier nicht mehr drehen können; Bäcker, die mitten in der Wüste zentnerweise Apfelkuchen backen; Schafhirten, die sich mitsamt Herde an den Concha-Strand von San Sebastián verirrt haben; Geishas, die ihren Geist fließen lassen wie im Wellenmuster japanischer Dachziegel.

Genügt das? Nun, Capybara könnte sich überlegen, demnächst nach Paraguay auszuwandern, um bei den nächsten Präsidentschaftswahlen gegen den populärsten Bischof des Landes anzutreten, unverkleidet natürlich und ohne tierische Maske. Oder das namibische Wörterbuch auswendig zu lernen, zumal er einige Ausdrücke bereits vortrefflich beherrscht: Oanob, Ohakane, Okahandja, Okatumba, Okombahe, Otjikoto, Owambo ...

So, das muss für heute genügen. Rasch noch den restlichen Singapore Sling geleert, die längsten Spinnenbeinchen aus Nase und Ohren gezupft und auf geht’s. Der Bus wartet nämlich schon, aber nicht ewig.

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P. O. BOX (3)

Esch-au-Lac. Der Titel des Romans steht nun fest: „80 D“. Gestern am späten Abend flatterte der entsprechende Vertrag zu dem nur eine Hand breit geöffneten Wohnzimmerfenster herein, unfrankiert, im durchsichtigen Plastikhemdchen. Ein Frauenroman!, behauptete der Verfasser. Keineswegs!, erwiderte seine allerliebste Lektorin, in diesem Fall haben wir es mit einem ..., einem ..., ja, mit einem typischen Männerroman zu tun. Mit einem esoterisch-pornographischen Machwerk übelster Sorte, fügte eine weitere Dame aus der Runde hinzu, die noch keine einzige Zeile davon gelesen hat. Typisch! Den Brei in den Ausguss schütten, bevor er gesalzen und gepfeffert ist. Kapiert haben’s einmal mehr nur die Kinder des Autors – drei pelzige Gesellen, die sich dem Erwachsenwerden konsequent verweigern. Papi, Papi, rufen sie unisono aus ihrem Versteck, deine Schnitzelchen heute waren wieder ein Gedicht.

© Georges Hausemer 18.11.2009

© Georges Hausemer

15. November 2009

OP DER RULL (3)

Capybara verabschiedet sich in den Herbst. Schneller als folgende Zeilen zu lesen sind, wird die alljährliche August-Herrlichkeit auch schon wieder vorbei sein. Schluss mit den freien Parkplätzen und wie leergefegten Bürgersteigen, wenn Capybara, wie fast jeden Tag morgens kurz nach acht, mit Zeitungen und Post unterm Arm durch die Fußgängerzone schlendert. Schluss mit den charmant lächelnden, weil größtenteils beschäftigungslosen Kassiererinnen im Supermarkt. Schluss mit dem Käsehändler, der seine wenigen Kunden auf einen Espresso einlädt, damit sie eine Weile länger in seinem Laden bleiben und ihm die Langeweile vertreiben. Schluss mit dem ausgestorbenen Spielplatz hinter Capybaras Garten, wo sich bald wieder wie am Spieß schreiende Kinder tummeln werden und im Dunkeln die Jugendlichen, die heimlich Haschischzigaretten drehen und sich mit vollen wie mit leeren Bierflaschen gegenseitig auf die Köpfe schlagen.
Allmählich wird es Zeit, dass die Wasserschweine von der nördlichen Sommerweide kommen und, im Vorbeiziehen Don Paul grüßend, nach Süden ziehen, ans Wasser, zum Salz, um sich im Muschelsand zu wälzen.
Heute morgen begegnete Capybara auf seinem Weg zur Post einer jungen Frau mit Burka. Olivengrün war ihr Ganzkörper-Zelt, ihr Gesicht halb verdeckt, nicht einmal ihre Schuhe konnte man erkennen. Sie hielt einen kleinen Jungen bei der Hand, er trug ein T-Shirt, auf seiner Brust war zu lesen: „Jesus loves you“.
Bevor Capybara sich zurück in sein Schreibställchen begab, kehrte er auf einen Milchkaffee in sein Stammlokal ein. Dort las er weiter und kam auf eine Idee: Wie wäre es, wenn Luxair, Capybaras heimatliche Fluggesellschaft, dereinst einen Schriftsteller mit Notebook in die Abfertigungshalle ihres nagelneuen Terminals setzen und ihn das dortige Treiben beobachten und beschreiben lassen würde? Wie unlängst geschehen am Londoner Flughafen Heathrow, wo Alain de Botton die kuriose Stelle des Writer-in-Residence einnahm. Eine Woche lang führte der Autor dort sein Airport-Tagebuch, das demnächst als Buch erscheinen wird (oder inzwischen bereits erschienen ist) und während der Niederschrift auf einer Riesenleinwand hinter seinem Schreibtisch von den Passagieren live mitgelesen werden konnte. Wie zu hören ist, leidet auch Luxair derzeit heftig unter der weltweiten Wirtschaftskrise. Vielleicht würde eine solche PR-Aktion ihr endlich wieder positive Schlagzeilen bescheren – und auch ihrem Schreibgast jene Aufmerksamkeit einbringen, die ihm im Land der Wasserschweine nur höchst selten angedeiht.
Noch etwas kam Capybara unter die Augen, und zwar zufällig die neueste Ausgabe des ADAC-Clubmagazins. Darin wurde für Navigationsgeräte für 99,90 (statt 239.-) Euro geworben, unter der Überschrift „Mit echten 3D-Ansichten leichter ans Ziel“ und mittels einer großzügig dekolletierten Brünetten, die den Apparat der „neuen Premium-Navi-Klasse“ just neben ihren aparten, halb freiliegenden Busen hielt. So viel Realismus erinnerte Capybara prompt an die Pflichten, die ihn vor dem Ende des Sommers noch in seinem Arbeitsställchen erwarteten. Seit Wochen, nein, Monaten, saß er nämlich an einer neuen, auf Romanlänge auszubauenden Geschichte, in der es ebenfalls um Oberweiten geht. Die heißt zwar nicht „3 D“, aber so ähnlich. Ob Leser der „ADAC motorwelt“ das fertige Buch aus Capybaras Werkstatt wohl jemals zur Hand nehmen werden?
Über andere Dinge, die im Leben so passieren, wird Capybara demnächst aus dem Ausland berichten. Zunächst mit einem leckeren Pintxo zwischen den Zähnen; später dann mit einer Wurststulle in der Hand, aber unter afrikanischer Sonne und aus dem sogenannten Konferenzwaggon eines Zugs, der durch Wüstensand kriecht. In besagtem Konferenzwagen dürfen nämlich auch Wasserschweine ihre müden Beinchen ausstrecken und genüsslich eine rauchen.

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P. O. BOX (2)

Esch-au-Lac. Am kommenden 19. September findet in Saarbrücken der „Europäische Schriftstellerkongress“ statt – ein hochtrabender Name für eine eintägige Veranstaltung, die aus ein paar Reden, Vorträgen und einem knappen Dutzend Lesungen von Autoren aus acht europäischen Ländern zum Thema „Die erzählte Stadt“ bestehen wird. Stutzig macht aber nicht nur der Titel der Veranstaltung. „Europäischer Schriftstellerkongress“ (EWC) nennt sich nämlich auch der 1977 gegründete Verbund europäischer Schriftstellervereinigungen, zu dem 60.000 einzelne Schriftsteller zählen, die 58 Mitgliedsorganisationen in gegenwärtig 30 Ländern Europas angehören. Aufhorchen lässt ebenfalls die Tatsache, dass das Städtenetz „QuattroPole“, zu dem sich die vier Metropolen der sogenannten Groβregion Luxemburg, Metz, Saarbrücken und Trier unlängst zusammenschlossen, den sogenannten „Europäischen Schriftstellerkongress“ in Saarbrücken unterstützt und eine Lesung der Autorin Annegret Held, die im Westerwald und in Frankfurt lebt, präsentiert. Auβer dem Saarländer Alfred Gulden ist erstaunlicherweise kein einziger Autor aus besagter Groβregion vertreten, kein Trierer, kein Metzer und auch kein Luxemburger. Wahrscheinlich sind diese sogenannten Metropolen und ihre Bewohner am Ende doch nicht „groβ“ genug, um bei Gesprächen und Textauszügen über „die Spannbreite zwischen schriftstellerischer Imagination und groβstädtischer Realität“, die im Faltblatt zur Veranstltung beschworen wird, ihr Wörtchen mitreden zu dürfen. Neu und sogar ein bisschen erfreulich ist allerdings die Tatsache, dass „QuattroPole“ mit einem Mal sogar kulturelle Ambitionen zu hegen scheint.

© Georges Hausemer 1.9.2009

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P. O. BOX (1)

Esch-au-Lac. Dann kommt ein Brief aus dem Erziehungsministerium. Man bietet als Nachdruckhonorar pro Buchseite 3,72 EUR an, „weil das in Deutschland so üblich ist“, wie auf Nachfrage erklärt wird. Später stellt sich heraus, dass dieser lächerliche Betrag auf dem Irrtum einer Praktikantin aus dem Suhrkamp Verlag beruht. Jahre her. Nie in Zweifel gezogen. Mit hündischer Treue nachgebellt. So kamen die Beamten bislang immer durch. Bis jetzt. Aber bald nicht mehr. Mit Verstörungen und Komplikationen muss gerechnet werden. „Vous n’imaginez pas tout ce que ... (bitte ergänzen) peut faire pour vous.“

© Georges Hausemer 10.8.2009

OP DER RULL (1)

Hato Piñero. Eine dumpfe Männerstimme, nachts um zehn vor eins, hypnotisch: „Sturmwarnung. Coromoto. Las Samanas. Masaguaral. Tief um eins null, doppelnull. Río Chirgua: west vier bis sieben. Schauer. Gut. El Baúl: west sechs bis acht. Schauer. Mäβig. Yacambú: west drei bis sechs. Schauer. Schlecht.“ Zehn Minuten, dann ist es vorbei. Man trinkt noch einen Brandy und legt sich schlafen, den Wind über dem weiten, flachen Land („Los Llanos“) im Ohr und in der schönen Gewissheit, dass es drauβen immer stürmischer ist als drinnen.

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