Neugier ist ein elementarer Wesenszug des Menschen. Eitelkeit ebenso, zumal, wenn einer sich künstlerisch betätigt, etwa mit selbstverfassten Texten an die Öffentlichkeit geht. Von den Lesern erwartet er sich eine Reaktion, doch wenn er weder Tadel noch Kritik und schon gar keinen flotten Verriss erträgt, tut er besser daran, seine Hervorbringungen im Privatsafe verschlossen zu halten. Wie und wo also kann ich für meine Texte eine unbestechliche Bewertung erstellen lassen, ohne herbe Enttäuschungen, gar ewigen Gesichtsverlust befürchten zu müssen?
Im Internet haben Schreiber seit kurzem die Möglichkeit, sich anonym einer wertenden Instanz auszuliefern und eigene Textbeispiele mittels komplizierter, ebenfalls undurchschaubar bleibender Algorithmen mit den Schreibstilen berühmter Schriftsteller vergleichen zu lassen. Auf der Homepage der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“ lockt folgende Einladung auf ein verführerisches Programm: „Ich schreibe wie … Franz Kafka? Oder eher wie Ildikó von Kürthy, Ingeborg Bachmann, Maxim Biller? Oder schreibe ich wie Goethe? Wenn Sie wissen wollen, ob Sie Stil haben und wenn ja: welchen – dann gibt es jetzt endlich eine absolut sichere und unbestechliche Messmethode. Was auch immer Sie schreiben, ob Briefe, E-Mails, Blogeinträge oder Tagebuch: Geben Sie den Text ins Feld unten ein. Je länger Ihr Text, desto zuverlässiger das Ergebnis. Klicken Sie nun den Button ‚Analysieren’ an. Innerhalb weniger Sekunden wird Ihnen unsere Maschine die Diagnose stellen. Ich schreibe wie …“
Nach welchen Parametern besagte Messmethode funktioniert, welche Kriterien bei der Beurteilung der Texte angewandt werden und wie die Vergleiche mit den Werken der bekannten Vorbilder genau zustande kommen, das alles wird nirgendwo verraten. Nur, dass die F.A.Z.-Maschine sich an dem englischsprachigen „WriteLike“-Vorbild (http://iwl.me) von „Coding Robots“ orientiert, ein junger Russe namens Dmitry Chestnykh die entsprechende Software entwickelt hat und die Eingaben der User nicht gespeichert werden.
Also los! Seit mehr als 30 Jahren setze ich denen, die das lesen wollen, meine Texte vor: Erzählungen, Romane, manchmal auch Gedichte, aber vor allem Reisebücher, Artikel und Reportagen zu allen möglichen Themen. Nur Reaktionen darauf bleiben meistens aus. In all der Zeit hat niemand mir gesagt, wie ich schreibe und mit wem ich mich und meine Texte gegebenenfalls vergleichen könnte – abgesehen von ein paar Kritikern, die naturgemäß und im Idealfall ihre subjektive Meinung äußern. Von Objektivität keine Spur. Wie gut, dass es nun diese Maschine gibt, die meine Texte prüft – und zwar in Sekundenbruchteilen. Ich brauche in den Kasten, über dem „Geben Sie hier Ihre Textprobe ein“ steht, nur ein paar Beispielsätze zu kopieren und den Button „Text analysieren“ anzuklicken, schon arbeitet der Generator und liefert mir drei Wimpernschläge später eine präzise Antwort.
Klingt kinderleicht. Also kopiere ich zunächst die erste Geschichte aus meinem kürzlich erschienenen Erzählband „Con Dao“ und werfe sie dem mysteriösen Programm in den Schlund. Im Handumdrehen hat der Automat die immerhin gut sechs Buchseiten lange und in Thailand spielende Beziehungsstory wissenschaftlich untersucht und spuckt prompt das Resultat aus: „Ich schreibe wie ... Uwe Johnson!“
Warum? Wieso? Weshalb? Keine Ahnung. Eine Begründung des Befunds wird nicht mitgeliefert. Auch ich selbst bin außerstande, eine irgendwie einleuchtende Beziehung zwischen meiner Kurzgeschichte und Uwe Johnson herzustellen. Von diesem Autor, der überdies bereits länger tot ist, kenne ich zwar einige Buchtitel und obendrein ein paar Details aus seinem Leben (er soll etwas mit Ingeborg Bachmann gehabt haben!), aber ich habe keinen einzigen seiner Romane vollständig gelesen.
Zweiter Versuch. Noch ein Auszug aus „Con Dao“, diesmal ein stilistisch etwas gewagterer, eher in Richtung innerer Monolog gehend, durchsetzt von den wirren Erinnerungsfetzen eines Protagonisten, der offenbar unter Drogen steht. Copy & paste – schon hab ich’s schwarz auf weiß: „Ich schreibe wie ... Melinda Nadj Abonji!“
Wie bitte? Na gut, den Namen der Jungautorin habe ich schon mal gehört; ihr Erstlingswerk, das 2010 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichnet wurde, allerdings nicht gelesen. Und die gilt bereits als Referenz? Sie scheint, obwohl sie erst ein einziges Buch veröffentlicht hat, jedenfalls schon mit den literarischen Größen mithalten zu können, die auf der Startseite des F.A.Z.-Spielchens groß mit Foto abgebildet sind: Thomas Mann, Günter Grass, Heinrich Böll, Ingeborg Bachmann, Daniel Kehlmann und natürlich auch die derzeit wieder auf allen Kanälen piepsende Charlotte Roche. Erst als der Name Melinda Nadj Abonji als Bezugsperson einer weiteren „Con Dao“-Geschichte auftaucht, schaue ich genauer hin. Rechts neben dem Fenster mit dem Urteilsspruch taucht die Nachwuchsautorin noch einige Male auf, weil dort in Wort und Bild für ihren Romanerstling geworben wird. Dazu passt, dass unter dem Textkasten auf die – natürlich äußerst positiv ausgefallene – Rezension hingewiesen wird, die, oh heiliger Zufall, unlängst in der F.A.Z. zu genau diesem Debütroman erschienen ist.
Was ist faul an dieser Sache? Mein letzter „Con Dao“-Test endet mit der Feststellung: „Ich schreibe wie ... Peter Handke!“ Nicht besonders originell, aber ..., nun gut. Gleichzeitig zeigt die Tabelle auf der rechten Bildseite nicht weniger als 944 Suchergebnisse zum Stichwort „Peter Handke“ an und verweist auf stattliche 24 F.A.Z.-Besprechungen über die jüngsten Publikationen des nicht unumstrittenen Österreichers.
Aber so leicht lasse ich mich nicht von einem Computerprogramm ins Bockshorn jagen! Nächster Testlauf. Sechs bislang unveröffentlichte Kurzprosastücke, „Sekundenromane“, wie ich diese Art Texte für mich nenne. Resultat: „... wie Melinda Nadj Abonji!“ Und wessen Stil ähnelt die explizit erotische, fast schon ins Pornografische driftende Short Story, die ich anschließend eingebe? Natürlich: Melinda Nadj Abonji!
Erst als die verfluchte Maschine mit meiner kleinen, leicht satirisch angehauchten Sommerreportage über einen einheimischen Campingplatz gefüttert wird, ändert sie plötzlich ihre Meinung. Nun schreibe ich wie ... Ildikó von Kürthy! Oh mein Gott, langsam wird’s peinlich. Wenigstens liefert die Suche nach Büchern dieser Trivialtante nur 204 Ergebnisse; und nicht mit einer einzigen Rezension erweist das Frankfurter Intelligenzblatt sich ihrer gnädig.
Schnell weiter. Mit einer Reisereportage über Chile, die vor einigen Monaten in derselben F.A.Z. abgedruckt war, lande ich erneut bei Melinda, während mir ein Bericht über den Bazar in der Altstadt von Damaskus vor den syrischen Unruhen einen unverhofften Vergleich mit Günter Grass einbringt. Eher perplex bin ich, als ein Auszug aus meinem nächsten Buch, einer im kommenden Oktober erscheinenden Geschichten- und Rezeptsammlung zur italienischen Küche in Luxemburg, mich mit Sigmund Freud verbindet. Habe ich das Werk des Wiener Psychoanalytikers bisher nicht in seiner ganzen Bandbreite erfasst? Verfasste Freud etwa ebenfalls Kulinaria?
Dieses absurde Ergebnis bringt mich auf eine Idee. Wie wäre es, wenn ich nicht nur eigene, sondern auch Texte von Kollegen analysieren lassen würde? Etwa eine Geschichte von Jhemp Hoscheit, zu der ich Zugang habe, weil mein Freund Jhemp sie mir für ein Anthologie-Projekt per E-Mail übermittelt hat. Mit diesem Text kann ich, hinterlistig wie ich manchmal bin, die Maschine einmal so richtig auf die Probe stellen, denn er wurde auf Luxemburgisch geschrieben. Das Resultat ist enttäuschend. Auch Jhemp Hoscheit schreibt wie ... Melinda Nadj Abonji. Während der Stil von Guy Helminger, von dem ich eine Kurzgeschichte aus dem Internet kopiere, mit dem von Ulla Hahn verglichen wird, die mit ihren oft süßlichen Sachen nicht selten in Kitschverdacht steht. Sorry Guy, aber mit Ildikó von Kürthy in einen Topf geworfen zu werden, ist noch schlimmer, nicht wahr? Und was soll denn unsere junge, ausschließlich Französisch schreibende Kollegin denken, von der ich aus lauter Nichtsnutz eine Handvoll poetischer Kindheitserinnerungen mit lyrischen Einschüben ins Netz gesetzt habe und über die ich anschließend beinahe bestürzt lesen muss, sie schriebe wie ... Karl Marx (von dem weiter rechts übrigens sagenhafte 6.111 Suchergebnisse angezeigt werden).
Alles Zufall? Gewiss, aber gleichzeitig auch mehr als bloß ein lustiger Zeitvertreib für Schreiberlinge auf der Suche nach Bauchpinseleien. Offenbar geht es auch bei Unternehmen wie der gemeinhin als seriös geltenden F.A.Z. in erster Linie ums Geschäft. Mit der Eitelkeit der Menschen ist halt gutes Geld zu verdienen. Doch zum Glück gibt es seit kurzem das „BlaBlaMeter“.
Dieses Programm (www.blablameter.de) verrät nicht nur tatsächlichen und vermeintlichen Schriftstellern, sondern auch PR-Profis, Politikern, Beratern, Werbetextern, Professoren und Studenten, wie viel heiße Luft sich in ihre Texte geschlichen hat. Das Prinzip ist das gleiche: Man kopiert eine Passage in das freie Feld, klickt auf den Analyse-Button und lässt den sogenannten Bullshit-Index ermitteln. Auf diese Weise erfährt der Proband zwar nicht, wer vor ihm schon vergleichbaren Blödsinn zu Papier gebracht hat. Dafür verrät ihm die Maschine, ob sein Text keine, sehr geringe, etliche oder bereits erhebliche Hinweise auf „Bullshit“-Deutsch enthält. Was letzten Endes jedenfalls sinnvoller ist als das Wissen, ob man sich mit Handke und Grass eventuell brüsten darf oder eher mit Ildikó, Ulla und Melinda schämen sollte.
Eine leicht gekürzte Fassung dieses Textes erschien
am 3./4. September im TAGEBLATT, Esch/Alzette
© Georges Hausemer
5. September 2011
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