22. November 2011

Hirtenbrief an die Hinterwäldler / Von Jérôme Netgen

Hat Professeur Frank Wilhelm, der große Frankophile unter den Frankophonen, der große Frankophone unter den Frankophilen, der emsige Fußnotenforscher im Weinberg der Grande Nation, etwa nicht mehr alle gestreiften Murmeln im Sack?

Oder wie sonst muss man folgende Aussage verstehen, die auf dem Blog des Schriftstellers Georges Hausemer (da sollte man ab und zu mal reinschauen, auch wenn der gute Georges es in letzter Zeit – ich vermute, seit er der italienischen Küche recherchehalber frönen musste – etwas ruhiger angehen lässt; mehr unter www.georgeshausemer.com) aufgegriffen wurde? Entnommen ist sie der französischsprachigen Wochenzeitung Le Jeudi, Ausgabe vom 10. November, Seite 7. Dort steht das Zitat, das alle Hinterwäldler hierzulande in ihre Schranken verweisen dürfte: „Quand le petit Luxembourgeois s’exprime en allemand, il entre dans une maison de plain-pied, située dans sa rue. Quand il parle français, il s’ouvre au monde.“

Für die Ungebildeten lautet meine Übersetzung wie folgt: Daheim Sägemehl fressen und draußen Bretter scheißen, das geht nicht! Roll over, Batty Weber!! … ENTWEDER bräsiges Rumhocken unterm Hirschgeweih ODER „Die Welt“!! … ENTWEDER Klein-Klein in der Mundart-Hölle ODER die sturmgepeitschten Höhen des „Citoyen du Monde“!! … Entweder ihr hobelt weiterhin auf Deutsch, meine lieben Luxis – schlimmer noch: in eurem ermüdenden Patois, das keine Sau versteht, geschweige denn liest –, oder ihr macht endlich den längst fälligen Antrag auf Vollmitgliedschaft in der Zivilisation. … C’est comme ça!

Denn dies ist nicht irgendein Hallodri aus Dünnpfiff-les-Bains, wie ein (leider deutscher) Satiriker Luxemburg-Stadt und ähnliche Parvenü-Metropolen gerne zu nennen pflegt, neiiin, es handelt sich hier um le Professeur Wilhelm, weltumspannende Autorität zum Thema Victor Hugo und die Geburt des Viandener Nussmarktes aus dem Geiste der Revolution (ich zitiere frei aus dem Gedächtnis und dummerweise erneut auf Deutsch, weil die Geisteshöhen, zu denen Professeur Wilhelm sich gemeinhin aufschwingt, eine Sprachkenntnis voraussetzen, die ich als bastardisierter Frankophoner natürlich nicht besitzen kann. Gerne gebe ich auch zu, dass ich das Buch nicht zu Ende gelesen habe!).
So wie die Iren, wenn sie in der Diaspora leben, immer irischer sein wollen als die Daheimgebliebenen auf der Insel, so sind die französelnden Frankophilen, wenn sie petits Luxemburger sind, immer französischer als die Franzosen in ihren französischsten, will sagen: authentischsten Momenten des gepflegten, ungehemmten Franzosentums. Vous me suivez ?

Ich für meinen Teil möchte sie nicht vermissen, die Culture aus Fronkraich, auch ¬¬ wenn ich mir am Thüringer-, pardon, ‘Lëtzebuerger-Grillwurscht’-Stand mitunter die Frage stellen muss, wie ich diesen Anblick mit meinen hohen Selbstansprüchen und Umgangsformen à la française in Deckung bringen kann. Aber diese Luxemburger Schizophrenie ist natürlich das Problem Luxemburger Schizophrener, also ein Minderheitenproblem durch und durch, und das tut man im Weinberg der Grande Nation gemeinhin mit Achselzucken quittieren.

Immerhin: die Schweiz-geborene Madame de Staël war, zweihundert Jahre vor Professeur Wilhelm, schon etwas weiter in ihrer freimütigen Akzeptanz der eigenen Schizophrenie und hat sich, soviel weiß ich, von Geheimrat Goethe auf dem west-östlichen Diwan kräftig becircen lassen. Na gut, Goethe war ein viriler Weltbürger mit Charme, gewissermaßen ein Dominique Strauss-Kahn mit Wadenstrümpfen, und nicht irgendein sale boche, wie man ihn aus „La Grande Vadrouille“, dem Lieblings-Nouvelle-Vague-Film aller frankophilen Intellektuellen und bestimmt auch von Frank Wilhelm, kennt. Und außerdem hatte er Diderot und Corneille übersetzt, war also mit Kultur bereits in Berührung gekommen.

Mich jedenfalls beschleicht das ungute Gefühl, dass einige von unseren möchtegernigen Franzosen auch nichts weiter als „les banlieusards de la littérature française“ sind, wie Léon Bloy über die Belgier richtete, und dass sie es insgeheim sogar ahnen (das ist ihre eigene kleine mickrige Schizophrenie unterm Hirschgeweih, und sie tun mir echt leid dafür!).

© Georges Hausemer

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